Gemuender Blut
Außenwelt in der Haustür prangte, platt und versuchte in den Hausflur zu sehen. Nichts. Ich erkannte nur die Deckenlampe, die trotz der hellen Mittagsstunde brannte.
»Frau Rostler?« Ich klopfte an das Glas, legte mein Ohr an die Tür und horchte konzentriert in das Innere des Hauses. Stille antwortete mir.
»Frau Rostler?«, rief ich nun lauter und drückte auf den Klingelknopf. Vielleicht hatte sie sich ja zu einem Mittagsschläfchen hingelegt und hörte das Klopfen nicht.
Wieder nichts.
»Ina?«
Ich fuhr herum.
»Was machst du da?« Der Vorwurf war deutlich aus Olafs Stimme herauszuhören.
»Ich will zu Frau Rostler.« Es gab keinen Grund, Olaf von meinem Besuch und dem vergessenen Handy zu erzählen. Wir hatten immerhin noch Streit.
»Das ist nicht zu überhören. Musst du so einen Krawall machen? Damit weckst du ja Tote auf.«
Ich sah meinen Bruder an. Seine letzten Worte trafen meine schlimmsten Befürchtungen.
»Sie macht nicht auf, Olaf. Sie ist seit gestern Morgen nicht an ihrer Tür gewesen.« Ich wies auf den überquellenden Briefkasten. »Und in ihrem Flur brennt das Licht – um zwölf Uhr mittags. Bei strahlendem Sonnenschein!«
»Statt um andere Leute solltest du dir lieber um deinen eigenen Vater Sorgen machen.« Olaf packte eine Mülltonne, die hinter einem Busch versteckt stand, riss den Deckel auf und warf einen Plastikbeutel mit solcher Wut hinein, dass der am Rand aufplatzte und sein Inhalt sich über den Boden verteilte. Ich seufzte, ging zu ihm und bückte mich, um ihm zu helfen.
»Wie geht es Papa?«, fragte ich ihn leise, obwohl ich es war, die Grund hatte, auf ihn wütend zu sein.
»Unverändert«, kam die Antwort. Olaf vermied jeden Blickkontakt.
»Warst du heute schon bei ihm?«
»Wenn er mich sieht, regt er sich furchtbar auf und versucht mir etwas zu sagen. Aber ich verstehe es nicht.«
»Ich weiß. Ich hatte auch den Eindruck. Thomas meinte, es sei normal und in den nächsten Tagen würde es besser.«
»Hoffentlich hat er recht, dein Doktor.«
»Er ist nicht ›mein Doktor‹, Olaf.« Ich ärgerte mich über Olafs Unterton.
»Was ist mit deinem Förster?«
»Er schläft.«
Ich würde mich nicht provozieren lassen. Ich wollte Frieden mit meinem Bruder schließen, aber ich würde ihm keine Rosenblätter auf den Weg streuen.
Mein Bruder zog eine Augenbraue hoch, schwieg aber ansonsten.
»Wir haben die ganze Nacht in Köln verbracht …«
Die Brauen zuckten.
»… und eine Wohnung observiert«, kam ich der bissigen Bemerkung zuvor, die ich auf seinen Lippen lauern sah. »Jonas Prutschik ist nicht ganz das Unschuldslamm, das er zu sein vorgibt.«
»Weiß Sauerbier davon?«
»Keine Ahnung.«
»Hast du es ihm gesagt?«
»Nein.«
»Was ist mit deinem Kollegen?«
»Noch nicht erreicht.«
»Aber mir das falsche Alibi vorwerfen! Das hat man gerne.« Er packte eine Bananenschale, warf sie in den Mülleimer und knallte den Deckel zu. Dann sah er zum Haus der Nachbarin. »Sollen wir mal nachsehen?«
»Hast du einen Schlüssel?« Daran hatte ich bisher noch nicht gedacht.
»Ich habe einen an meinem Schlüsselbund. Aber der ist gerade einkaufen.«
»Der Schlüsselbund?«
»Mit Michelle. Sie hat ja noch keinen eigenen Schlüssel.«
»Oh.« Ich räusperte mich. »Ja, klar«, fügte ich hinzu, bevor mein Schweigen zu beredt wurde. »Lass uns nachsehen.«
Ich stieg über den flachen Jägerzaun, der Frau Rostlers Garten zur Vorderseite des Hauses hin abgrenzte. Blühende Strauchrosen in Pink und einem dunklen Rot säumten den Weg aus Bürgersteigplatten an der Hauswand entlang. Blasslila Lavendel und Rosmarin füllten die Luft mit der Erinnerung an französische Urlaubsfreuden. Sommerblumen und Stauden. Büsche und Kletterpflanzen. Für Nase und Augen gleichermaßen ein Fest. Alle Beete waren sorgsam geharkt und mit viel Liebe angelegt worden. Im hinteren Teil des Gartens standen die breiten Blätter eines Rhabarbers wie Fächer über der Erde. Von da aus konnten wir durch das große Panoramafenster in das Wohnzimmer sehen. Aber obwohl auch hier alle Lampen brannten, war keine Spur von Frau Rostler zu sehen.
»Das gefällt mir nicht«, sagte Olaf und drückte gegen die Terrassentür. »Frau Rostler?« Er hämmerte gegen die Scheibe.
Von einem ordentlich aufgeschichteten Stapel Holz riss ich ein Scheit herunter und schlug damit gegen das Glas.
»Was soll das bringen?« Olaf betrachtete das Scheit in meiner Hand, dann die Scheibe und schüttelte den Kopf. »Das ist
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