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Gemuender Blut

Gemuender Blut

Titel: Gemuender Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elke Pistor
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und die Treppe hinuntergefallen«, sagte Olaf mit brüchiger Stimme. »Ina meint aber, da hätte jemand nachgeholfen. Vermutlich eine Berufskrankheit von ihr.«
    Ich runzelte die Stirn. Olaf hatte die Leiche zwar mit mir gemeinsam gefunden, aber das gab ihm nicht das Recht, Einzelheiten hinauszuposaunen, solange nicht klar war, was mit der alten Dame passiert war.
    Meinen Ärger hinunterschluckend ging ich zur Kaffeemaschine, die ihre Arbeit in der Zwischenzeit beendet und uns starken, heißen Kaffee bereitet hatte. Im Hängeschrank oberhalb der Maschine standen die Tassen. Ich zog drei auf einmal nach vorne und hob sie vom Regalbrett.
    Ein winziger Gegenstand fiel mir entgegen, rollte über die Ablagefläche und kullerte in die Spüle. Ich stelle die Tassen ab und fing das silbrige Teilchen, bevor es im Abfluss verschwinden konnte. Ein Ohrring lag in meiner Hand. Silberne Fassung, glänzender Stein. Ich schob den Schmuck über meine Handfläche und betrachtete ihn von allen Seiten. Kein Zweifel.
    »Wo ist das Gegenstück?«, fragte ich Michelle und hielt den Stein ins Gegenlicht.
    »Wenn ich das mal wüsste.« Sie strich sich eine Strähne aus der Stirn. »Ich muss ihn verloren haben. Aber ich kann mich nicht erinnern, wo das gewesen sein soll.«
    »Im Schwimmbad vielleicht? Ich habe dort so einen Ohrring gefunden und ihn bei der Dame im Kassenhäuschen abgeliefert.«
    »Im Schwimmbad?« Michelle lachte. »Nein, ganz bestimmt ist es dann nicht meiner.« Sie schüttelte den Kopf. »Meine Haut ist so empfindlich gegen die Sonne. Nie würde ich ins Schwimmbad gehen.«
    »Ist ja auch jetzt nicht wichtig.« Ich legte den Ohrring auf die Ablage.
    Durch das Küchenfenster schien die Sonne warm in den Raum. Ihre Strahlen brachen sich an den Facetten des Steins und brachten ihn zum Funkeln. Ich kniff die Augen zusammen und legte meine Hand über das Schmuckstück. Dann seufzte ich.
    »Wichtig ist, was mit Frau Rostler passiert ist. Die Obduktion wird etwa einen Tag dauern. So lange brauchen sie auch, um etwaige DNA-Spuren auszuwerten.«
    »Mein Vater war auch zuckerkrank. Er unterzuckerte ständig«, unterbrach Michelle meinen Gedankengang. »Im Ergebnis ist es wohl das Gleiche: Wenn man nichts dagegen unternimmt, fallen sie ins Koma.« Sie strich mit der flachen Hand über den Tisch und wischte ein imaginäres Staubkorn weg. »Mein Bruder und ich waren in ständiger Alarmbereitschaft und Sorge um Papa.«
    »Meine Schwester ist da anders.«
    Olaf, der die ganze Zeit stumm auf seinem Platz gesessen hatte, sprang auf und stützte die Fäuste ab. Sein Stuhl kippte nach hinten weg und schlug mit einem Knall auf dem Boden auf. Schwarze Schatten unter seinen Augen ließen ihn müde und alt aussehen.
    »Sie sorgt sich nicht um ihren Vater!«
    Ich schnappte nach Luft. Was war das denn jetzt?
    »Und auch nicht darum, ob ich bei der Pflege des Hauses, das ja immerhin auch ihr Erbe ist, Unterstützung brauchen könnte.« Die Wut in seiner Stimme war nicht zu überhören.
    Ich war sprachlos.
    »Guck nicht so, Ina. Oder hast du schon einmal hinterm Haus den Rasen gemäht? Hast du dich um einen Reha-Platz für Hermann erkundigt? Warst du überhaupt bei ihm, heute oder gestern?« Er ging zu Michelle und nahm demonstrativ den Platz an ihrer Seite ein. »Nein, du kümmerst dich lieber um fremde alte Frauen und kurvst mit deinem Förster durch Köln.«
    »Olaf, es reicht.« Selbst in meinen Ohren klang meine Stimme eisig.
    Für einen Moment lagen mir alle Argumente auf der Zunge, die ich ihm hätte entgegenschleudern können – dass er mich gebeten hatte, Steffen zu helfen, dass ich kurz vor ihrem Tod noch zu Besuch bei Frau Rostler gewesen war, dass ich mich sehr wohl um Hermann kümmerte, dass er, Olaf, mich aus dem Haus geekelt hatte – aber ich schluckte sie hinunter. Unser Streit würde nur noch mehr eskalieren, als es ohnehin schon der Fall war.
    Als wir heute Morgen gemeinschaftlich in Frau Rostlers Haus eingedrungen waren und sie gefunden hatten, hatte ich für eine kurze Zeit das Gefühl gehabt, zwischen Olaf und mir sei wieder alles eingerenkt. Ich hatte mich geirrt.
    Sein Zorn und seine Enttäuschung über was auch immer waren viel größer, als ich vermutet hatte. Ich sah meinen Bruder und seine Freundin an.
    Olaf stand hinter ihr, beide Hände auf ihren Schultern, Schutz und Stütze zugleich. Er würde alles für sie tun. Michelle lächelte zu ihm auf. Zusammen bildeten sie ein Bollwerk an Einigkeit und Vertrautheit, in dem

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