Gemuender Blut
Schwenkarmen.
Michelle wandte den Kopf und lächelte mir zu, als ich näher trat. Olaf rührte sich nicht. Es saß neben dem Bett auf einem Stuhl, hielt Hermanns Hand und streichelte sie. Für mich erübrigte er nicht einen Blick.
»Hallo, Olaf«, versuchte ich es und nickte Michelle freundlich zu.
»Hallo.« Immer noch starrte er unverwandt auf unseren Vater, dessen geschlossene Lider und regelmäßigen Atemzüge einen tiefen Schlaf vermuten ließen.
»Ich muss mit dir reden, Olaf.«
Schweigen.
»Ich möchte dich gerne einige Dinge fragen.«
Er schluckte.
»Persönliche Dinge.«
Endlich wandte er den Kopf und sah mich an. Sein Blick war voller Hass.
»Dann frag die Dinge, die du fragen musst.«
Ich blickte auf Michelle und zog eine Augenbraue hoch.
»Michelle kann bleiben. Vor ihr habe ich keine Geheimnisse.«
»Aber vor mir schon«, platzte es aus mir heraus. Er hatte es wieder geschafft. Ich konnte mich nicht beherrschen.
»Und?«
»Du hast einen Leserbrief geschrieben.«
»Ist das verboten?«
»Natürlich nicht.« Ich ging um Hermanns Bett herum, sodass ich Olaf genau gegenüberstand und sein Gesicht sehen konnte. »Aber Prutschik hat es nicht gefallen, und er hat dich verklagt.«
»Das ist ein freies Land. Wenn er meint, er müsse das tun …«
»Olaf, wenn er meinte, er müsse das tun, und damit Erfolg gehabt hätte, wärest du deinen Job los gewesen.«
»Du deutest jetzt nicht das an, was ich glaube, oder?« Olaf stand auf und baute sich drohend vor mir auf. Michelle, die die ganze Zeit still in einer Ecke gestanden und unserem Gespräch gefolgt war, erhob sich ebenfalls. Sie legte Olaf die Hand auf den Arm. Ihre feingliedrigen Finger zuckten leicht, als sie sich zum ihm beugte und ihm einen Kuss auf die Wange hauchte.
»Ich lasse euch allein, Schatz.« Ihr Blick fixierte mich. »Es ist besser, ihr klärt das. Man sollte nicht im Streit auseinandergehen.« Wieder dieses Blitzen in ihren Augen. Machte sie mich für das Gelingen des Gesprächs verantwortlich?
Ich biss mir auf die Unterlippe, um eine Bemerkung zu unterdrücken, die mit Sicherheit nicht zur Entspannung der Lage beigetragen hätte.
Michelle sah noch einmal zwischen Olaf und mir hin und her, fischte ihre Handtasche von der Fensterbank und ließ uns allein.
»Olaf …«, setzte ich an.
»Was?«, brüllte er los.
Ich schluckte, rang um Fassung und versuchte sachlich zu bleiben. »Wir müssen das klären.«
»Pass mal gut auf, Ina. Ich bin jahrelang gut ohne dich ausgekommen. Deine Hilfe brauche ich nicht. Ist das klar?« Seine Stimme dröhnte durch den Raum.
Ich merkte, wie mir die Tränen in die Augen schossen. Vor Wut. Vor Enttäuschung. Vor Schmerz und vor Angst.
»Jetzt kommt wieder die Nummer.« Er verdrehte die Augen, wandte sich ab und starrte aus dem Fenster. Es knallte, als er seine Hände auf das Fensterbrett schlug und herumfuhr.
»Prutschik war ein …«, begann er in einer Lautstärke, die durch die ganze Station hallte.
»Herr Stein!« Schwester Maria stand auf der Schwelle zu Hermanns Zimmer. »Geht das auch leiser? Wir sind hier auf einer Intensivstation, nicht auf der Kirmes.« Die Autorität ihrer gestärkten Kittelschürze erfüllte den Raum und brachte Olaf zum Schweigen. Er klappte den Mund zu und ballte die Hände zu Fäusten, bis das Weiße an den Knöcheln zutage trat.
Schwester Marias Nasenflügel bebten. Wie Kampfhirsche standen sich die beiden gegenüber. Keiner bereit, nur einen Schritt zu weichen und dem anderen Territorium zu überlassen.
»Maria ist böse!« Die brüchige, leise Stimme kam aus dem Bett. Hermann.
»Maria ist böse!«, wiederholte er mit großen Augen und blinzelte im Licht der Deckenleuchte.
»Nein, Herr Stein, ich bin nicht böse. Seien Sie nicht beunruhigt.« Schwester Maria ging zu ihm, kontrollierte einige Anzeigen über seinem Kopf und strich dann über seine Finger. »Nein, Herr Stein, ich bin nicht böse.«
Sie bedachte uns mit einem Gesichtsausdruck, der so viel bedeutete wie »Seht, was ihr angerichtet habt«.
»Maria ist böse!« Tränen liefen über Hermanns Wangen. Dann wurde sein Blick wieder trübe.
»Pap!« Ich ging zu ihm, legte meine Finger an seine Wange und versuchte, sein Gesicht zu mir hinzudrehen. »Pap!«
Er stöhnte und schloss die Augen.
»Lass ihn in Ruhe, Ina.«
»Aber er spricht wieder!«
»Du hast schon genug angerichtet.«
»Wie kannst du …!«
»Besser, Sie gehen jetzt. Das war genug Aufregung für Ihren Vater«, unterbrach mich
Weitere Kostenlose Bücher