Gemuender Blut
dass dieses Medikament deinem Bruder gehört?«
»Warum sollte es sonst in seinem Apothekenschrank liegen?«
Thomas kratzte sich an der Nasenwurzel. »Hast du Veränderungen an seinem Verhalten bemerkt?«
»Er reagiert sehr unbeherrscht und ist vor allem mir gegenüber oft aggressiv.«
»Hattest du das Gefühl, dass er unter Depressionen leidet? Auch bevor das alles passierte?«
»Nach der Sache mit Jan wollte ich nichts mehr sehen und nichts mehr hören. Ehrlich gesagt, habe ich nicht auf Olaf geachtet.« Meine Finger glitten über das Kunstleder der Behandlungsliege. Mein Blick folgte den Rillen, die die Nägel in der Oberfläche hinterließen. Nach einer Weile plusterte sich der Schaumstoff unter dem Leder wieder auf, und die Spuren verschwanden. »Ich war zu sehr mit mir selbst beschäftigt, um auf ihn zu achten.«
»Was ist passiert?«
Ich hob den Kopf und sah ihn an. »Ich habe mich in einen Mörder verliebt. Meine Erfahrungen, mein Können und meine Instinkte haben auf der ganzen Linie versagt. Erst als er mit zertrümmerten Gliedern auf der Domplatte lag, erkannte ich den Wahnsinn hinter seinem Genie.« Tränen schossen in meine Augen. Die Wunde schmerzte immer noch. Aber anders jetzt. Sie brannte nicht mehr. Sie pochte nur leise.
»Ich bin nicht sicher, ob ich jemals wieder als Kommissarin bei der Kriminalwache arbeiten werde. Vielleicht wechsele ich einfach die Nummer hinter dem KK oder mache etwas ganz anderes.«
Thomas nickte. »So etwas braucht Zeit. Nimm sie dir.« Er klappte den roten Wälzer zu und schob ihn wieder ins Regal zurück. »Ich habe auch oft gezweifelt an dem, was ich hier tue.« Er lachte bitter auf. »Aber dann geht es doch weiter. Irgendwie.«
Wir schwiegen. Durch die angelehnte Tür des Behandlungsraums drang der Alltag des Krankenhausbetriebs. Absätze klapperten, Geschirrwagen wurden den Flur entlanggeschoben und hinterließen eine Duftspur nach Blumenkohl und Früchtetee.
»Olaf hätte ein Motiv, Prutschik umzubringen«, durchbrach ich schließlich die Stille.
»Traust du ihm einen Mord zu?«
»Ich weiß es nicht, Thomas. Er ist mein Bruder. Ich kenne ihn. Aber kenne ich ihn gut genug?«
»Was sagt dir dein Gefühl?«
»Mein Gefühl sagt mir, mich bloß nicht darauf zu verlassen, sondern die reinen Fakten zu sehen, zu sammeln und zu analysieren.«
»Sprich mit ihm, Ina!«
»Soll ich zu ihm gehen, ihm die Hand geben und sagen: ›Hey Brüderlein, warum hast du mir nicht gesagt, dass du Prutschik aus dem Weg geräumt hast?‹, und er wird sagen: ›Ach Schwesterlein, entschuldige bitte, aber ich bin noch nicht dazu gekommen?«
»So ähnlich.«
Ich setzte mich auf die Liege, ließ die Hände in meinen Schoß sinken und schüttelte den Kopf.
»Wenn er nicht mein Bruder wäre, sondern ein ganz normaler Verdächtiger, würde ich ihn nicht so direkt damit konfrontieren.«
»Sondern?«
»Ich würde nach Anzeichen suchen, die meine Theorie bestätigen oder verwerfen.«
»Dann mach es so.«
»Aber er ist mein Bruder.«
»Vertrau einfach auf deine Erfahrungen, dein Können und deine Instinkte.« Thomas grinste. »Aber bevor du das tust, lass mich bitte einen Blick auf deine Wunden werfen. Es wäre zu schrecklich, wenn sie hässliche Narben auf deinen hübschen Beinen hinterlassen und mich damit wieder in tiefe ärztliche Zweifel stürzen würden.«
Die Gegensprechanlage an der Schleuse zur Intensivstation brummte und knackte, bevor ich die Stimme der Krankenschwester hörte, die mich ins Wartezimmer schickte und mich bat, einen Moment zu warten.
Durch das kleine Fenster schien die Sonne und heizte den Raum auf. Ich fühlte mich wie in einer Sauna. Ein Schluck von dem bereitstehenden Sprudel schmeckte schal, obwohl ich die Flasche frisch geöffnet hatte. Vielleicht kam es mir auch nur so vor.
Eine Schwester öffnete die Tür, stellte sich als »Schwester Maria« vor und bat mich, ihr zu folgen.
»Ihrem Vater geht es deutlich besser. Er hat bereits Besuch. Ihr Bruder und seine Freundin sind bei ihm«, sagte sie zu mir. »Es dürfen maximal zwei Besucher bei einem Patienten sein. Sie sollten sich mit Ihrem Bruder absprechen.«
»Ich werde mit ihm reden. Wir werden das klären«, erwiderte ich, während ich ihr entlang der Wandschränke durch den winkeligen Flur folgte und schließlich vor Hermanns Bett stand.
Die alte Dame aus dem Nebenbett war verschwunden. Der Platz war leer. Nur die Apparate schwebten zum nächsten Einsatz bereit an Haken und
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