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Gemuender Blut

Gemuender Blut

Titel: Gemuender Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elke Pistor
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die Schwester.
    Ich wusste nicht, wen von uns beiden sie meinte. Trotzdem packte ich meine Tasche und verließ wortlos den Raum. Die Gräben zwischen Olaf und mir wurden immer tiefer, und ich hatte keinen Schimmer, wie ich sie zuschütten sollte. Meine Schritte hallten von den Wänden wider. Ich fühlte mich allein. Und schuldig.
    Vor dem Eingang lungerten die immer gleichen grauen Gesichter, versteckt hinter dem Qualm ihrer Zigaretten, und erzählten sich ihre Leidensgeschichten. Von Krankheit und Tod. Von Schmerzen und Hoffnungen. Ihren eigenen und denen der Menschen, die sie kannten und liebten. Ich suchte mir einen freien Platz auf den Bänken, setzte mich zu ihnen und atmete die Wortfetzen ein wie kleine Tropfen Trost.
    »Wat äss, Mädscher? Jeiht et nimmie?« Eine Frau mit Bademantel, Rollator und Infusionsständer hockte auf der äußersten Kante der Bank und wippte mit ihren blauen Plüschpantoffeln. Ihre vergoldete Zigarettenspitze glänzte, und dunkelrot lackierte Nägel klebten an den Fingerspitzen der mit Falten und Altersflecken übersäten Hand.
    Strahlend blaue Augen forschten in meinem Gesicht, und ich hatte das Gefühl, als ob sie alles darin lesen könnte, was mich bedrückte.
    »Doch, danke. Es geht schon.«
    Ihre Mundwinkel zuckten. Dann hob sie die Zigarettenspitze, sog daran und blies mit pumpenden Lippen Rauchkringel in die Luft. Unter dem Pergament ihrer Haut versteckte sich die Schönheit vergangener Jahre. Stärke und Mut. Klugheit. Sie nickte.
    »Et jeiht at immer esu.«
    »Ja. Das tut es.«
    Ich lächelte sie an. Sie hatte recht. Es ging immer. Irgendwie.

FÜNFZEHN
    Der Traktor vor meinem Auto quälte sich und mich durch die Anliegerstraßen von Roggendorf. An der Ampel der Johann-Baptist-Straße bog er nach links ab und beraubte mich damit aller Hoffnung, in den nächsten fünfzehn Minuten in Gemünd zu sein. Erst kurz hinter der Einfahrt zur Mülldeponie schlug er die Richtung nach Hergarten ein.
    Die Wagen der Kolonne, die sich gebildet hatte, zogen einer nach dem anderen an mir vorbei. Die vierzig PS meines neunundsechziger Käfers konnten es mit ihnen nicht aufnehmen. Zumal es jetzt steil die Wallenthaler Höhe hinaufging. Der Motor zwitscherte in seinem Versteck hinter der Rückbank, und der Wagen beschleunigte langsam, aber stetig. Ich überholte vorsichtig einen Lkw mit fremdem Kennzeichen, der sich auf der rechten Spur eingeordnet hatte. Zu oft hatte ich es schon erlebt, dass die Fahrer erst in der letzten Sekunde die Abbiegespur nach Kall erkannten und versuchten, ihren Fehler zu korrigieren. Ein Schlag im Lenkrad riss mich aus den Gedanken. Der Lkw setzte zum Spurwechsel an. Ich hupte, aber er reagierte nicht. Toter Winkel? Ich gab Gas, und mit einem Aufheulen des malträtierten Motors quetschte ich mich knapp vor ihm an der Verkehrsinsel vorbei in die Spur. Ein Ruck in meinem Lenkrad. Hatte er mich doch noch erwischt. Der Blick in den Rückspiegel überzeugte mich vom Gegenteil. Mindestens zehn Meter Abstand zwischen uns. Trotzdem blendete der Fahrer des Lkws auf.
    »Hey, du Blindfisch – nicht ich habe dich abgedrängt!«, schnauzte ich ihn ungehört an und trieb den Käfer die abschüssige Straße hinunter. Hier schaffte er es manchmal auf hundertdreißig Stundenkilometer. Ich musste grinsen. Die kleinen Freuden einer Oldtimerfahrerin. Selten, aber dafür umso mehr genossen.
    Die Lichter des Lkws flackerten wie Stroboskope in einer Diskothek. Meine Blicke verfingen sich immer wieder im Rückspiegel. Was wollte er? Stimmte etwas nicht mit dem Käfer? Ich bremste ab.
    Noch zweihundert Meter bis zu der Kurve, an deren Rand einige Holzkreuze daran gemahnten, die rot-weißen Pfeile an der Leitplanke ernst zu nehmen. Das Lenkrad zitterte. Täuschte ich mich, oder schwamm der Wagen auf der Fahrbahn? Hundert Meter. Jetzt hörte ich es.
    Ein regelmäßiges Klacken, als ob sich ein dicker Stein in meinen Reifen verfangen hätte. Ich bremste wieder. Fünfzig Meter. Das Holzschild mit dem Symbol des Nationalparks rauschte rechts an mir vorbei.
    Der Wagen sprang vorne links in die Höhe, es knallte, dann knickte er ein, wie ein angeschossenes Tier. Ich schrie. Keine Kontrolle mehr. Die scharfe Kurve näherte sich in Zeitlupe. Meine Finger umkrallten das Lenkrad. Wild pumpte ich abwechselnd auf Gaspedal und Bremse. Wollte den Wagen in der Spur halten. Zwanzig. Zehn. Keine Chance.
    Wie ein Schlitten schoss der Käfer auf die gegenüberliegende Leitplanke zu. Schreie tobten durch meinen

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