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Gene sind kein Schicksal

Gene sind kein Schicksal

Titel: Gene sind kein Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Blech
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das Knie, sie entfernen lockeres Material und glätten raue Oberflächen – fertig ist die sogenannte Kniegelenkstoilette.
    Der Orthopäde Bruce Moseley am Veterans Affairs Medical Center im texanischen Houston wollte wissen, inwiefern die Prozedur wirksamer ist als eine Scheinoperation. [82] Dazu teilte er 180  Patienten mit mittelschwerer Knie-Arthrose nach dem Zufallsprinzip unterschiedlichen Gruppen zu. Wer in welcher Gruppe war, erfuhr Moseley aus versiegelten Briefen, die er erst unmittelbar vor der Operation öffnete. Die einen Patienten intubierte der Arzt, gab ihnen eine Vollnarkose und behandelte sie dann nach den Regeln der Arthroskopie.
    Die Patienten der Placebo-Gruppe dagegen wurden mit einer Spritze in einen Dämmerschlaf versetzt. Zusätzlich erhielten sie ein starkes Schmerzmittel, dann ritzte Moseley ihnen mit dem Skalpell drei winzige Schnitte in die Haut und bewegte das Bein wie bei der richtigen Operation. Ein Assistent goss Wasser in einen Eimer, um die Spülgeräusche zu simulieren. Auch wenn die Probanden schliefen – alles sollte so echt wie möglich wirken.
    Sämtliche Patienten wurden noch eine Nacht im Krankenhaus betreut und zur gleichen Zeit entlassen. Keiner erfuhr, was mit seinem Knie geschehen war. Es war aber auch egal: Zwei Jahre nach dem Experiment waren nahezu alle Patienten zufrieden mit dem Eingriff und in vielen Fällen froh, ihre Schmerzen losgeworden zu sein – es spielte allerdings gar keine Rolle, ob sie nun operiert worden waren oder nicht.
    Obwohl Moseleys Ergebnisse bereits vor einiger Zeit im
New England Journal of Medicine
verkündet wurden, erfreut sich die arthroskopische Kniegelenkspülung weiterhin großer Beliebtheit: Jedes Jahr werden in deutschen Kliniken mehr als 190   000  Knie arthroskopisch traktiert; hinzu kommen Hunderttausende Eingriffe, die in den Praxen stattfinden. In den westlichen Staaten ist rund um die Methode eine Industrie mit vielen Milliarden Euro Umsatz entstanden – die Heilkraft der Einbildung wird teuer erkauft.
    Placebo stellt Patient und Arzt zufrieden
    Häufig gehen Ärzte auch dazu über, ihre Patienten gleich mit Scheinarznei zu behandeln. In den USA enthält etwa ein Drittel aller verschriebenen Arzneimittel keinerlei Wirkstoff; einer Umfrage in Israel zufolge verabreichen dort 60  Prozent der Ärzte gelegentlich Scheinbehandlungen. Und auch in Deutschland setzten vermutlich sehr viele Ärzte wissentlich oder unwissentlich Placebos ein, vermutet Erland Erdmann, Professor für Kardiologie an der Klinik III für Innere Medizin der Universität zu Köln.
    Aber nicht nur Pillen aus Milchzucker und Stärke, sondern auch Apothekenprodukte, die pharmakologisch kaum oder gar nicht wirken, kommen als Scheinmedikamente zum Einsatz. Diverse Mittelchen auf Pflanzenbasis werden insbesondere Menschen mit Kopf-, Hals- oder Rückenschmerzen gegeben, bei denen eine organische Ursache ausgeschlossen werden kann. In anderen Fällen schreiben Ärzte die Namen bewährter Arzneimittel auf den Rezeptblock – allerdings sind sie derart gering dosiert, dass sie keine nennenswerte pharmakologische Wirkung entfalten können.
    »Da glücklicherweise die meisten dieser Befindlichkeitsstörungen mit und ohne Behandlung von selbst verschwinden, erscheint es für den Patienten und den Arzt günstig, wenn mit der Autorität des weißen Kittels Pillen, Tropfen oder Lutschtabletten verordnet werden«, erklärt Erdmann. »Der Patient fühlt sich ernst genommen, und der Arzt hat etwas getan. Meistens sind dann beide zufrieden.«
    Im Unterschied zu vielen ärztlichen Kollegen macht Erdmann keinen Hehl daraus, dass er selbst in die Placebo-Kiste greift. Einer jungen Frau zum Beispiel, deren Herzbeschwerden nicht nachvollziehbar waren, verschrieb der Professor Adoniskraut-Auszüge in geringsten Dosen und machte ihr Mut, dass ihre Beschwerden bald verschwinden würden.
    Glücklich durch körpereigenes Rauschmittel
    Die Interaktion zwischen Patient und Heiler regt im Gehirn des Hilfesuchenden jenes System an, über welches sonst Schmerz- und Rauschmittel aus der Gruppe der Opioide wirken. Das fanden Forscher so heraus: Zunächst verabreichten sie Menschen nach einer Zahnbehandlung eine Scheinmedikation – die Schmerzen ließen nach, die Patienten atmeten langsamer und ruhiger.
    Dann aber gaben sie den Testpersonen die Arznei Naloxon. Diese blockiert einen bestimmten Opiatrezeptor im Gehirn und unterdrückt auf diese Weise das Glücksgefühl, das Menschen nach

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