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Gene sind kein Schicksal

Gene sind kein Schicksal

Titel: Gene sind kein Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Blech
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irrigerweise den Genen zu und unterschätzen auf diese Weise die Rolle der Umwelt.
    Zwillingsstudien mit verfälschten Ergebnissen
    Um den Einfluss der Gene auf die Intelligenz zu messen, vertrauen Genetiker am liebsten auf Studien unter Zwillingen. Wenn biologische Faktoren die Geisteskraft hauptsächlich vorbestimmen, dann sollten die IQ -Werte von eineiigen und damit genetisch identischen Zwillingen ähnlicher sein als die Werte von zweieiigen Zwillingen. Doch die Zwillinge in den meisten Studien sind in erstaunlich ähnlichen Verhältnissen aufgewachsen: in behüteten Familien der Mittelschicht, die man als bildungsnah bezeichnen kann. Aus diesem Grund machen solche Familien verstärkt an Studien zur Zwillingsforschung mit – Eltern aus schwierigen Verhältnissen haben dafür zumeist keinen Sinn.
    Eric Turkheimer von der University of Virginia in Charlottesville ist dieses Missverhältnis vor einiger Zeit aufgefallen. Dass die Gene eine Rolle spielen, würde der Forscher nicht bestreiten. In der Verhaltensgenetik sage man, die Leute schrieben alles der Umwelt zu – »bis sie dann ihr zweites Kind bekommen«, scherzt Turkheimer.
    Aber die Story, wonach die Gene selbstverständlich über die Intelligenz bestimmen, die erschien ihm dann doch zu simpel. Als klinischer Psychologe hat er immer wieder Menschen behandelt, die in armseligen Verhältnissen aufgewachsen waren. Dabei hat Turkheimer es in vielen Fällen fast spüren können: Das widrige Milieu hatte die Geisteskraft seiner Patienten unterdrückt.
    Doch konnte er seine Vermutung auch wissenschaftlich beweisen? In der Literatur zur Intelligenz kamen Zwillinge aus schwierigen Verhältnissen nicht vor. Turkheimer hat das misstrauisch gemacht: Wenn Wissenschaftler stets nur Zwillinge aus begütertem Haus testen, führt das nicht zu einem verfälschten Ergebnis? Verfälscht deshalb, weil Umweltfaktoren wie Stress und Vernachlässigung bei diesen privilegierten Testzwillingen gar nicht erst auftauchen? Mit seinen Kollegen machte sich Turkheimer auf die Suche nach Daten von Zwillingen aus armen und sozial benachteiligten Familien. Der Psychologe fand eine Quelle, eine ganz ausgezeichnete sogar: Im National Collaborative Perinatal Project der Vereinigten Staaten haben Forscher knapp 60   000  Kinder aus zwölf Städten erfasst und die ersten sieben Jahre ihres Lebens nachverfolgt. Zum Abschluss der Untersuchungen machten alle Kinder einen Intelligenztest. Aus diesen Fällen filterte Turkheimer am Ende 319  Zwillingspaare ( 114 waren eineiig, 205 zweieiig) heraus.
    Für die Kinder aus wohlhabendem Haus ergab sich: Ihre unterschiedlichen Leistungen im Intelligenztest gehen zu knapp sechzig Prozent auf die Gene zurück. Ganz anders aber war das Ergebnis für die Kinder aus sozial benachteiligten Familien – die Erblichkeit der Intelligenz war bei ihnen praktisch gleich null. Bei den »ärmsten Zwillingen schien der IQ fast ausschließlich durch ihren sozio-ökonomischen Status bestimmt zu sein«, erklärt Turkheimer. Die chaotischen Familienverhältnisse haben das genetische Potential unterdrückt. Übertragen auf eine Stadt wie Berlin bedeutet dies: Kinder in reichen Vierteln wie Dahlem wachsen oftmals in intakten und bildungsnahen Familien auf, und das Potential ihrer Gehirne können sie gut und mitunter sogar maximal abrufen. Das spiegelt sich in den generell guten Abiturnoten wider. Individuelle Unterschiede in den Schulnoten gehen dann eher auf genetische Unterschiede zurück. Kinder in einem armen Bezirk wie Neukölln dagegen leben oftmals in schwierigen Verhältnissen und können das Potential ihrer Gehirne mitunter nur sehr eingeschränkt ausschöpfen. Die Noten in dem Bezirk sind durchwachsen. Wenn Kinder aus Neukölln unterschiedliche Noten haben, dann gehen diese Unterschiede vor allem auf Einflüsse aus der Umwelt, sprich: die familiäre Situation zurück. Und auch der Leistungsunterschied zwischen Schülern aus Dahlem und Neukölln liegt an der jeweils anderen Umwelt.
    Der ehemalige Berliner Finanzsenator und Politiker Thilo Sarrazin hat in einem Zeitungsinterview erklärt, Intelligenz sei erblich, und deshalb sei es illusorisch zu glauben, man könne Menschen durch die Schule ändern. [98] Damit deutet Sarrazin an, die von ihm kritisierten Berliner Schüler mit Migrationshintergrund, mit Eltern etwa aus der Türkei oder dem Libanon, wären von Natur aus geistig minderbemittelt. Diese Ansicht ist allein schon wissenschaftlich gesehen blanker

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