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Gene sind kein Schicksal

Gene sind kein Schicksal

Titel: Gene sind kein Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Blech
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auch seelischer Druck, Nöte, Sorgen und Vernachlässigung die Intelligenz vermindern. Stress kann man physisch nicht fassen, aber im Gehirn von Säugetieren bewirkt er messbare Schäden: Er verändert die Arbeit der Neurotransmitter, unterdrückt die Bildung neuer Nervenzellen, beeinflusst die Wirkung von Stresshormonen und verringert das Volumen des Hippocampus sowie des präfrontalen Kortex.
    Abbildung  8 :
    In jungen Jahren ist die fluide Intelligenz besonders wichtig. Chronischer Stress verhindert, dass sie sich im Gehirn normal ausbilden kann.
    Der Hippocampus ist die Eingangspforte in das Gedächtnis, und der präfrontale Kortex verleiht uns die sogenannte flüssige (oder fluide) Intelligenz, die in jungen Jahren besonders ausgeprägt ist. Sie schenkt Kindern die schnelle Auffassungsgabe und ist für das Lernen entscheidend (die kristallisierte oder kristalline Intelligenz dagegen umfasst die erlernten Dinge und nimmt im Alter noch zu). Es liegt also nahe zu vermuten, dass dauerhafter Stress ein Schulkind gleichsam dumm halten kann.
    Dieser Frage sind Gary Evans und Michelle Schamberg von der Cornell University im US -Bundesstaat New York nachgegangen, und zwar in einer Langzeitstudie an 195  Schülerinnen und Schülern. [105] Sie errechneten die jeweilige Stressbelastung der Kinder, als diese neun und 14  Jahre alt waren, und zwar anhand eines Indikators (in der englischen Sprache: allostatic load), der sich aus sechs Messwerten zusammensetzt: dem Spiegel dreier Stresshormone, dem diastolischen und systolischen Blutdruck und dem Body-Mass-Index. Je höher diese Messwerte liegen, desto stärker plagt einen Menschen der Stress.
    Als die Forscher die Werte der 195  Jugendlichen abglichen, fiel ihnen ein Muster auf: Diejenigen, die aus verarmten Verhältnissen kamen, hatten eine deutlich erhöhte Stressbelastung. Anhand früherer Studiendaten konnten die Forscher zudem genau ermitteln, wie lange die untersuchten Jugendlichen nach ihrer Geburt in armen Verhältnissen gelebt hatten. Auch hier kam heraus: Je länger die Kinder in Armut verbracht hatten, desto höher war ihr Stressindikator.
    Nun wollten die Forscher wissen, ob der vermehrte Stress Spuren im Gehirn hinterlassen hatte. Dazu testeten sie das Gedächtnis der Jugendlichen, als diese 17  Jahre alt waren. Abermals schälte sich ein Muster heraus: Jene, die ihr ganzes Leben in Armut verbracht hatten, konnten im Durchschnitt 8 , 5  Dinge im Gedächtnis behalten. Die umsorgten Sprösslinge aus der Mittelschicht waren schlauer: Sie konnten durchschnittlich 9 , 4 Dinge speichern.
    Die Ergebnisse allein beweisen noch keinen direkten Zusammenhang zwischen Stress und Gedächtnis, aber mit einer speziellen statistischen Methode konnten die Forscher andere Faktoren ausschließen. Das schlechtere Arbeitsgedächtnis geht tatsächlich auf den Stress zurück und nicht auf andere Merkmale von Armut. Das könnte bedeuten: Kinder, die in stressigen Verhältnissen aufwachsen, tun sich in der Schule schwerer und erscheinen den Lehrern »dümmer« als Kinder aus wohlbehüteten Verhältnissen. Sie kriegen schlechte Noten, müssen sich mit schlecht bezahlten Jobs begnügen und bleiben arm. Wenn sie Kinder haben, dann wachsen diese ihrerseits in einem stressigen Milieu auf. Der Teufelskreis wiederholt sich.
    Reden ist Gold
    Das Gehirn ist ein Spiegel der Erziehung. Aus dem aktiven Wortschatz eines Menschen lässt sich heraushören, wie viel seine Eltern einst mit ihm gesprochen haben. Die Psychologen Betty Hart und Todd Risley von der University of Kansas haben die Familien von Kindern unterschiedlichster Hautfarbe und sozialer Klasse besucht und stundenlang notiert, wie viel Eltern und Kinder miteinander sprachen. [106] Die Unterschiede waren nicht zu überhören: Berufstätige Eltern der Mittelschicht redeten dauernd mit ihren Kindern; sie erklärten die Welt, gaben Einschätzungen ab, erzählten von ihren Erfahrungen und Gefühlen und fragten die Kinder nach deren Erlebnissen und Bedürfnissen. Natürlich rügten sie ihre Kinder auch, aber einer Ermahnung standen sechs ermunternde Kommentare gegenüber. Im Durchschnitt sagten die Eltern jede Stunde 2000 Worte zu ihrem Kind.
    In Haushalten von Sozialhilfeempfängern wurde merklich weniger geredet. Jede Stunde waren es nur 1300 Worte. Die waren auch unfreundlicher: Auf eine Rüge kamen nur zwei Ermunterungen. Die unterschiedlichen Tischsitten fielen ebenfalls auf. Eltern der Mittelschicht banden die Kinder in das

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