Gene sind kein Schicksal
nun jeweils so viel Arzneimittel, bis die Schmerzen jeweils um die Hälfte gesunken waren. Bei den Patienten, die von der Infusionsmaschine versorgt wurden und gar nichts von der Schmerzmittelgabe wussten, waren deutlich höhere Dosen notwendig, um dieses Ziel zu erreichen. Es ist ein geniales Experiment: Die Ärzte haben gar kein Placebo gegeben, aber sie haben sehr wohl einen Placebo-Effekt ausgelöst. Das Ausmaß des Effekts lässt sich ablesen im unterschiedlichen Arzneimittelverbrauch bei offener und versteckter Verabreichung.
Auf den klinischen Alltag übertragen bedeutet das: Ärzte, die ihre Patienten ausführlich über Verordnungen informieren und Zuversicht schenken, kommen mit weniger Medikamenten aus. Wenn ein Patient, der die Weisheitszähne gezogen bekommen hat, gründlich über die Wirkung von Schmerzmitteln aufgeklärt ist, dann ist das schon so viel wert wie die Gabe von sechs bis acht Milligramm Morphin.
Worte wie Medizin
Doch just in der Phase, in der die Hirnforschung die Bedeutung ärztlicher Anteilnahme wissenschaftlich untermauert, schwindet ihr Einfluss im medizinischen Alltag. »Von den Medizinstudenten bis zu den Chefärzten wird das nicht richtig ernst genommen«, sagt Manfred Schedlowski. »Die halten das für Psychogelaber.«
Es ist verrückt, aber für die oftmals beste Medizin – das Gespräch – bleibt in Deutschland und anderen Industriestaaten kaum Zeit. »Die gegenwärtige Abfertigung im Drei-Minuten-Takt geht nicht«, sagt der Tübinger Psychologe Paul Enck. »Das ist eine Entwicklung, die den Leuten Angst macht.« Die Kommunikation zwischen Arzt und Patient sei eindeutig eine der Schwachstellen im deutschen Gesundheitswesen, hat eine Umfrage ergeben. 46 Prozent der Befragten bekommen demnach das Ziel einer Behandlung selten oder niemals von ihrem Arzt erklärt – wie sollen da die Heilkräfte der Einbildung entstehen?
Wo es Schulmedizinern an Einfühlungsvermögen fehlt, schlägt die Stunde der Akupunkteure und Heilpraktiker. Ihre Theorien gründen nicht auf den Naturgesetzen. Manche Methoden rufen jedoch über das Placebo-Netzwerk unspezifische Effekte hervor, die man nicht einfach wegdiskutieren sollte.
Seit einiger Zeit werden die Kosten für die Akupunktur bei chronischen Rücken- und Knieschmerzen von den Krankenkassen in Deutschland erstattet. Damit hat es ein Verfahren in den Leistungskatalog geschafft, das auf der Heilkraft der Einbildung beruht: Nichtphysische Faktoren (Zuversicht, Optimismus) bewirken in den Körperzellen physiologische Veränderungen.
Manche Mediziner halten es für moralisch falsch, Patienten wirkstofflose Behandlungen zu verabreichen und sie darüber im Unklaren zu lassen. Allerdings melden sich zunehmend Ärzte zu Wort, die das Verabreichen von Placebos offen befürworten. Der Herzspezialist Brian Olshansky etwa kann sich Situationen vorstellen, in denen es statthaft wäre, dem Patienten ein Scheinmedikament zu geben: Wenn der Doktor noch keine genaue Diagnose habe und es für den Erkrankten keine bessere Alternative gebe. Der Patient wäre einerseits vor Behandlungen mit noch schlimmeren Nebenwirkungen abgeschirmt. Zum anderen könnte er durch das Placebo bis zu 80 Prozent seiner Schmerzen verlieren.
Wichtiger aber noch erscheint Brian Olshansky ein Umdenken unter seinen Kollegen. Wäre es nicht wunderbar, wenn Schulmediziner erkennen, dass sie selbst unmittelbar auf die Neurobiologie ihrer Patienten einwirken? Man wünscht sich, dass mehr Ärzte sich Brian Olshanskys Worte zu Herzen nähmen:
»Ein kalter, gefühlloser, unbeteiligter Arzt wird eine Nocebo-Antwort hervorrufen. Ein sorgender, einfühlsamer Arzt dagegen fördert Vertrauen, stärkt heilsame Erwartungen des Patienten und ruft eine starke Placebo-Antwort hervor. Ein Ansatz voller Anteilnahme ist mehr wert als jede rein medizinische Behandlung.« [92]
Kapitel 9 Intelligenz und wie man sie bekommt
Es ist die Elite von morgen, die sich in der Memorial Church auf dem Campus der Harvard University eingefunden hat. Auf den unbequemen Holzbänken sind junge Menschen unterschiedlichster Hautfarbe zu sehen. Viele von ihnen studieren hier, andere kommen vom Massachusetts Institute of Technology, das nur ein paar Kilometer entfernt ist.
Vorne sitzt ein weißhaariger Mann auf einem Stuhl. Es ist James D. Watson, an diesem Tag 79 Jahre alt, und die lebende Legende der Biologie. [93] Im Alter von nur 25 Jahren entdeckte der Amerikaner zusammen mit dem Briten Francis
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