Gene sind kein Schicksal
das neue Umfeld der Adoptivfamilie da überhaupt noch ausrichten?
Um das herauszufinden, machte Michel Duyme die Kinder ausfindig und kontaktierte ihre neuen Familien und Schulen. Die Kinder waren zu diesem Zeitpunkt mittlerweile Jugendliche und zwischen 11 und 18 Jahre alt. Nun führten Psychologen ein zweites Mal Tests mit ihnen durch, wobei sie allerdings eine List anwandten. Weil sie möglichst unverfälschte Ergebnisse haben und die adoptierten Jugendlichen nicht bloßstellen wollten, haben die Forscher die Tests als Klassenarbeiten getarnt, an denen alle Mitschüler teilnahmen. Die Ergebnisse sind ermutigend: Wenn ein Kind aus zerrütteten Verhältnissen in eine sozial schwache, aber intakte Adoptivfamilie kam, dann war der IQ um 8 Punkte gestiegen. Und wenn solch ein Kind in eine Familie der oberen Mittelschicht oder Oberschicht gekommen war, dann verbesserte es seinen IQ sogar um 19 , 5 Punkte.
Das Gehirn startet durch
Den vorstehenden Befunden können viele zur Seite gestellt werden. Vor vielen Jahren hatten französische Nonnen im Libanon ein Waisenhaus gegründet für Kinder, die sofort nach ihrer Geburt von den Eltern verlassen worden waren. Es war eine Einrichtung, die sich auf das Allernötigste beschränkte. Die Kinder saßen nebeneinander auf dem Töpfchen, sie schliefen in Krippen in langen Reihen in einer Halle. Auf Sauberkeit wurde in dem Heim mehr geachtet als auf Fürsorge. In den 70 er Jahren wurden jedoch Forscher auf das Waisenhaus aufmerksam und machten 136 Kinder ausfindig, die hier einst aufgezogen worden waren. 85 von ihnen hatten, um ihren dritten Geburtstag herum, das Heim verlassen und Aufnahme in Adoptivfamilien gefunden. Und um ihren elften Geburtstag herum machten alle 136 Kinder einen Intelligenztest. Die Ergebnisse waren eine kleine Sensation: Die adoptierten Kinder hatten einen durchschnittlichen IQ von 85 und lagen damit im normalen Bereich ihres Umfelds. Die Kinder, die nicht aus dem Heim wegadoptiert worden waren, hatten einen durchschnittlichen IQ von ungefähr 65 – sie waren geistig schwer zurückgeblieben.
Diese Ergebnisse und die Resultate von 61 weiteren Studien mit insgesamt knapp 18 000 adoptierten Kindern haben Forscher der Universität Leiden untersucht und überall vergleichbare Effekte gefunden. [103] Sie schreiben: »Im Gegensatz zu landläufigen Meinungen überwinden die meisten adoptierten Kinder ihre verzögerte Entwicklung und können von den Möglichkeiten der Erziehung in den Adoptivfamilien und Schulen profitieren.«
Einige wenige Kinder allerdings bleiben im Unterricht zurück, vermutlich weil ihre Gehirne durch extreme Vernachlässigung und gravierende Fehlernährung organisch geschädigt sind. In den meisten Fällen jedoch blühen die Kinder unglaublich auf. Das ist einmal mehr ein Hinweis, wie wandelbar und plastisch das menschliche Gehirn ist.
Nahrung für die Nerven
Wie kein zweites Organ ist das Gehirn auf die Außenwelt angewiesen, um sich normal entwickeln zu können. Die Stimulation durch Eltern und Lehrer mag noch so groß sein – wenn die Nervenzellen nicht ausreichend ernährt werden, wenn es beispielsweise in manchen sozial schwachen Familien an der Zufuhr von Vitaminen und Spurenelementen mangelt, dann können sie ihr Potential nicht voll entfalten. Umgekehrt scheint Muttermilch eine besonders gute Nahrung für die grauen Zellen zu sein, weil sie reich an bestimmten Fettsäuren ist, die wichtig für die Entwicklung des Gehirns sind. Blei und Alkohol dagegen wirken wie Gift auf die Nervenzellen und können Symptome hervorrufen, die nach außen wie geistige Behinderungen aussehen.
Wenn es darum geht, wie schlau und begabt ein Kind ist, dann halten viele Menschen die biologische Ausstattung für den wichtigsten Faktor – und verkennen dabei, dass beispielsweise der Wohnort einen größeren Effekt auf das Gehirn haben kann als die Gene. In der amerikanischen Stadt Boston haben Forscher herausgefunden: Kinder, die in der Nähe von Straßen und Kreuzungen leben und besonders hohen Mengen an Abgasen aus Verbrennungsmotoren ausgesetzt sind, haben einen um 3 Punkte geringeren IQ als Altersgenossen in Wohnorten mit sauberer Luft. [104] Ruß und andere Substanzen können offenbar bis in das Gehirn gelangen und dort die Arbeitsweise der Nervenzellen verändern. Hunde, die der verschmutzten Luft in Mexiko-Stadt ausgesetzt sind, haben verkümmerte Gehirne, wie man sie von Morbus Alzheimer kennt.
Ähnlich wie Schadstoffe können
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