Gene sind kein Schicksal
Medikamente
Wie ein böser Fluch schien das tödliche Leiden über der Familie Erdmann aus Duisburg zu liegen. Jahrzehntelang haben der Vater und die Mutter unter der Erkrankung gelitten und sind schließlich daran gestorben. Ihre Tochter Elisabeth erwischt es ebenfalls. Als sie im Alter von 48 Jahren zum Arzt geht, ist das Leiden bereits überraschend weit fortgeschritten. Elisabeth ist von Beruf Krankenschwester und kennt sich mit Biologie aus. Die Diagnose nimmt sie mit Fatalismus auf. Das musste ja so kommen, denkt Elisabeth: »War ja klar, dass ich das auch kriege. Ist ja genetisch.« Nach der Diagnose ändert sie deshalb nichts. Ungeachtet ihrer Erkrankung geht sie in den folgenden Jahren einfach nicht zum Arzt.
Typ- 2 -Diabetes mellitus heißt die Krankheit, und wer die Meldungen darüber verfolgt, der kann – wie Elisabeth Erdmann – leicht den Eindruck gewinnen, das Leiden werde einem in die Wiege gelegt. »Diabetes-Gen entdeckt«, hieß es, als eine internationale Forschergruppe einen verdächtigen Abschnitt auf dem Chromosom Nummer 2 , ein Gen namens
calpain- 10
aufspürte. Wenig später gaben sich Pharmakologen der Technischen Universität Braunschweig als Entdecker von Diabetes-Genen zu erkennen. Sie wollen eine Genvariante entdeckt haben, die etwa 15 Prozent aller Fälle von Typ- 2 -Diabetes mellitus verursacht. Die Pharmakologen hätten »den derzeit wichtigsten genetischen Risikofaktor für jene Erkrankung entschlüsselt, die schon heute als eines der drängendsten medizinischen Probleme des 21 . Jahrhunderts gilt«, posaunen es die Mitarbeiter der Pressestelle der Technischen Universität Braunschweig hinaus. [135]
Das klingt seltsam vertraut, vermelden Forscher doch mit schöner Regelmäßigkeit die Entdeckung von nun wirklich besonders wichtigen Diabetes-Genen. Mitarbeiter des großen internationalen Forschungskonsortiums Magic (für: Meta-Analyses of Glucose and Insulin-Related Traits Consortium) wollen auf einen Streich gleich neun Abschnitte im Erbgut dingfest gemacht haben, die für den Blutzuckerspiegel und Diabetes eine Rolle spielen. Wissenschaftler der isländischen Firma deCode Genetics dagegen heben das
tcf
7
l
2
-Gen (für:
transcription factor
7
-like
2 ) auf dem Chromosom 10 hervor und bieten einen entsprechenden Gentest an. Wenn das genetische Risiko bekannt sei, so verspricht das Unternehmen, dann »könnte es möglich sein, Maßnahmen zu ergreifen, um die Wahrscheinlichkeit des individuellen Diabetes-Ausbruchs zu verringern oder zu minimieren«. [136]
Zählt man die ganzen Meldungen, dann sind inzwischen rund zwanzig Gene zusammengekommen, die einen angeblich verwundbar für die Krankheit machen.
Entsprechend kolportieren es Broschüren und Beiträge. »Diabetes Typ 2 : Erkrankungsrisiko durch Vererbung hoch«, informiert eine Krankenkasse ihre Mitglieder. [137] Und eine überregionale Zeitung erklärt auf einer Sonderseite zu Medizin und Gesundheit über Typ- 2 -Diabetes mellitus kurz und bündig: »Die Neigung, diesen Diabetes zu bekommen, wird vererbt.« [138]
Der Mythos vom gierigen Gen
Die Bedeutung der Gene wird noch stärker herausgestrichen durch jene Schauergeschichten, die Wissenschaftler von verschiedenen Naturvölkern aus Amerika, Asien und Australien berichten. Die Stämme und Gruppen dieser Völker seien vom Aussterben bedroht. Die Indianer Amerikas, die Maoris Neuseelands oder etwa die Aborigines Australiens – es könne gut sein, warnt Paul Zimmet vom International Diabetes Institute der Monash University in Australien, dass diese indigenen Völker nicht überleben werden.
Besonders arg betroffen sind demnach die etwa 13 000 Einwohner auf Nauru, einer entlegenen Insel im westlichen Pazifik, die Polynesier und Melanesier in prähistorischer Zeit besiedelt haben. Vermutlich kamen etliche der Menschen damals gar nicht freiwillig auf das Eiland, sondern wurden als Schiffbrüchige hierher verschlagen. Die Menschen richteten sich ein und betrieben auf dem kargen Inselboden Ackerbau und fingen Fische im Meer. Nauru wurde 1888 von Deutschland annektiert, 1914 von Australien besetzt und erlangte 1968 die Unabhängigkeit. Nach der Unabhängigkeit flossen die Einkünfte aus dem Abbau der Phospatvorkommen den Inselbewohnern zu – und auf einmal zählten sie vorübergehend zu den reichsten Menschen auf dem Erdenrund. [139] Das ist nicht ohne Folgen geblieben: Die Bewohner des Zwergstaates gehören zu den fettleibigsten Menschen überhaupt. Nach
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