Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Generation P

Generation P

Titel: Generation P Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
Vom Netzwerk:
stand schweigend im Gras und übersah den näher kommenden Tatarski geflissentlich. Der hingegen verlangsamte seinen Schritt, ging brav wie ein Kind hinüber und baute sich schuldbewußt vor Hussein auf.
    »Ist was?« fragte Hussein.
    Vor Schreck achtete Tatarski nicht darauf, ob er die Worte nun wieder richtig herausbrachte oder nicht. Was er sagte, war jedenfalls völlig unpassend:
    »Nur eine Frage. Mich würde interessieren, welche Assoziationen bei dir als Repräsentant der Zielgruppe das Wort Parlament hervorruft.«
    Hussein zeigte keine Verwunderung. Er überlegte kurz, dann sagte er:
    »Da gab es so ein Gedicht von al-Ghazzali. Das Parlament der Vögel. Da ging es drum, daß dreißig Vögel sich aufmachen, den Simurgh zu suchen. Den König aller Vögel und großen Meister.«
    »Wozu brauchten die einen König, wenn sie ein Parlament hatten?«
    »Das mußt du sie selber fragen. Außerdem war Simurgh nicht bloß König, sondern kostbare Wissensquelle. Was man vom Parlament nicht behaupten kann.«
    »Und wie hat es geendet?« fragte Tatarski.
    »Nachdem dreißig Prüfungen bestanden waren, erfuhren sie, daß das Wort Simurgh nichts anderes als › dreißig Vögel ‹ bedeutet .«
    »Von wem?«
    »Gottes Stimme hat es ihnen gesagt.«
    Tatarski nieste. Hussein verstummte augenblicklich, sein Gesicht verfinsterte sich, er wandte sich ab. Eine ganze Weile wartete Tatarski auf die Fortsetzung, bis ihm auffiel, daß Hussein ein Mast war – mit einem angenagelten, im Dunkeln schwer zu entziffernden Schild: Kein Feuer anzünden! Darüber geriet er etwas außer sich – Girejew und Hussein schienen unter einer Decke zu stecken. Husseins Geschichte hatte ihm gefallen, doch da mit weiteren Einzelheiten nicht zu rechnen war, ließ sie sich für eine Zigarettenkonzeption wohl nicht verwenden. Tatarski lief weiter und grübelte, was ihn dazu bewegt haben mochte, so ängstlich vor dem Hussein-Mast Aufstellung zu nehmen, ohne daß dieser ihn darum gebeten hatte.
    Die Erklärung, die er fand, war nicht eben schmeichelhaft: Es lag wohl an dem nicht vollständig aus ihm herausgepreßten Sklaven, ein Rudiment der sowjetischen Epoche. Nach weiterer Überlegung kam Tatarski zu dem Schluß, daß der Sklave in der Seele eines Sowjetmenschen nicht in konzentrierter Form und an einen bestimmten Bereich gebunden vorliegt; vielmehr färbt er alles, was sich auf ihrem zwielichtigen Gelände abspielt, gleichmäßig mit dem Pigment einer zählebigen Psycho-Peritonitis ein, weswegen es keine Chance gibt, den Sklaven tropfenweise, wie der gute alte Tschechow es verlangte, aus sich herauszupressen, ohne daß kostbare seelische Substanz dabei beschädigt würde. Dieser Gedanke schien ihm im Lichte der anstehenden Zusammenarbeit mit Pugin von Gewicht zu sein, er wühlte lange in den Taschen nach einem Stift, um ihn festzuhalten. Da war aber keiner.
    Dafür näherte sich schon wieder ein Fußgänger – und diesmal sichtlich keine Halluzination. Tatarski ersah es aus dessen Verhalten, nachdem er ihn um einen Stift gebeten hatte: Der Mann ergriff die Flucht; er rannte wirklich schnell und ohne sich umzusehen.
    Tatarski konnte sich nicht erklären, womit er den Leuten solche Angst einjagte. Vielleicht war es die merkwürdige Dysfunktion seiner Rede: daß seine Sätze in Bruchstücke zerfielen, die sich dann auf willkürliche Weise neu verkitteten. Doch war an diesen unangemessenen Reaktionen durchaus etwas Schmeichelhaftes.
    Plötzlich kam Tatarski ein derart verblüffender Gedanke, daß er stehenblieb und sich an die Stirn schlug. Der Turmbau zu Babel! dachte er. Wahrscheinlich haben die so ein Fliegenpilzgebräu gesoffen, und die Wörter sind ihnen im Mund zerbröselt wie mir. Und das nannten sie dann Sprachverwirrung. Vielleicht sollte man es eher Zungenverwirrung nennen.
    Tatarski spürte in seinem Denken eine ungeheure Wucht. Jeder Gedanke ein Flöz Realität – dem abendlichen Wald, durch den er ging, absolut ebenbürtig. Mit dem Unterschied, daß der Wald ja nur ein Gedanke war, den zu denken er nicht lassen konnte, so sehr er sich auch Mühe gab. Andererseits war an dem, was in seinem Geist vor sich ging, der Wille fast nicht beteiligt. Als seine Gedanken bei der Sprachverwirrung angekommen waren, stand schon fest, daß die Erinnerung an Babel das einzig mögliche Babel war; indem er daran dachte, erweckte er es zum Leben. Und wie Kipper auf eine Baustelle transportierten die Gedanken in seinem Kopf das Material, auf daß der Turm zu Babel

Weitere Kostenlose Bücher