Genesis Secret
Aleviten und Jesiden. Sie werden unter dem Oberbegriff Engelskult zusammengefasst. Diese Religionen sind vermutlich fünftausend Jahre alt, wenn nicht sogar noch älter. Sie sind ausschließlich in diesem Teil der Welt anzutreffen.« Sie hielt inne. »Und der Jesidismus ist die älteste und eigenartigste von allen.«
»Inwiefern?«
»Die Bräuche der Jesiden sind ziemlich seltsam. Sie verehren heilige Bäume. Frauen dürfen ihr Haar nicht schneiden. Sie weigern sich, Salat zu essen. Sie vermeiden es, dunkelblaue Kleider zu tragen, weil diese Farbe nach ihrer Auffassung zu heilig ist. Sie sind strikt in Kasten unterteilt, die nicht untereinander heiraten dürfen. Die oberen Kasten sind polygam. Jeder Gläubige, der einen Nicht-Jesiden heiratet, riskiert seine Ächtung oder Schlimmeres. Deshalb heiraten sie nie einen Nichtgläubigen. Das ist absolut tabu.«
Christine unterbrach ihre Freundin. »Ist der Engelskult in der Türkei nicht mehr oder weniger ausgestorben?«
»Fast. Die letzten Anhänger des Kults leben vorwiegend im Irak, etwa eine halbe Million von ihnen. Aber auch in der Türkei gibt es noch ein paar tausend Jesiden. Natürlich werden sie überall unerbittlich verfolgt. Von Muslimen, Christen, Diktatoren …«
»Und woran glauben diese Leute genau?«, wollte Rob wissen.
»Der Jesidismus ist synkretistisch, er vereinigt Elemente vieler Religionen in sich. Wie die Hindus glauben die Jesiden an die Reinkarnation. Wie die Anhänger des alten Mithraskults opfern sie Stiere. Wie die Christen glauben sie an die Taufe. Und wie die Zoroastrier wenden sie sich beim Gebet der Sonne zu.«
»Und woraus schließen Sie, dass das Zeichen auf dem Krug ein jesidisches Symbol ist?«
»Das werde ich Ihnen zeigen.« Isobel ging zu dem Bücherregal an der Rückwand des Zimmers und kam mit einem Bildband zurück. Darin fand sie die Abbildung eines Kupferstabs, auf dessen Spitze ein Vogel saß. Der Bildunterschrift zufolge handelte es sich dabei um einen »jesidischen Sandschak«. Es war genau das gleiche Zeichen wie auf den Krügen im Keller des Museums.
Isobel klappte das Buch zu und wandte sich Christine zu. »Aber jetzt sag mir mal die vollständigen Namen der Arbeiter auf der Grabung. Und den Nachnamen von Beshet aus dem Museum.«
Christine schloss die Augen und dachte nach. Leicht stockend zählte sie schließlich ein halbes Dutzend Namen auf. Und dann noch ein paar.
Isobel nickte. »Lauter Jesiden. Die Arbeiterauf eurerGrabung. Sie sind Jesiden. Und Beshet ebenfalls. Und ich müsste mich schon sehr täuschen, wenn nicht auch die Männer, die euch entführen wollten, Jesiden waren. Sie wollten diese Krüge im Museum schützen.«
»Hört sich durchaus einleuchtend an«, sagte Rob, »wenn man den Ablauf des Ganzen berücksichtigt. Was ich damit sagen will: Als Christine wegen des Codes für das elektronische Türschloss zu Beshet ging, hat er ihr den Code zwar gegeben, aber anschließend wahrscheinlich seine jesidischen Glaubensbrüder angerufen und ihnen erzählt, was wir vorhatten. Deshalb sind sie plötzlich im Museum aufgetaucht. Sie müssen von jemandem einen Tipp bekommen haben!«
»Natürlich«, versetzte Christine. »Aber warum sollten die Jesiden wegen ein paar alter Krüge einen solchen Aufstand machen? Egal, wie grausig ihr Inhalt ist? Was regen sie sich jetzt noch so darüber auf? Warum wollten sie uns mit allen Mitteln von unserem Vorhaben abbringen?«
»Genau das ist der springende Punkt«, sagte Isobel. Auf dem friedlichen Wasser hinter dem Fenster glitzerte die Sonne.
»Da wäre noch etwas«, fuhr sie fort. »Die Jesiden haben einen höchst eigenartigen Gott. Er wird in Gestalt eines Pfaus dargestellt.«
»Sie beten einen Vogel an?«
»Ja, und sie nennen ihn Melek Taus. Den Pfauenengel. Ein anderer Name für ihn ist… Moloch. Der von den Kanaanitern verehrte Gottdämon. Ein weiterer Name für ihn ist Satan. Nach Auffassung der Christen und Muslime.«
Rob war perplex. »Soll das heißen, die Jesiden sind Satanisten?«
Isobel nickte fröhlich. »Schaitan, der Teufel. Der Schreckensgott des Opfers.« Sie lächelte. »Nach unserem Verständnis, ja. Die Jesiden beten den Teufel an.«
29
Cloncurry. Das war ihr allerletzter Name und ihre allergrößte Hoffnung. Der Regen klatschte gegen die Windschutzscheibe, als Forrester die Unterlagen und Fotos auf seinen Knien durchsah. Er und Boijer waren ein Stück südlich von Lille in einem Mietauto unterwegs. Boijer fuhr, Forrester las - schnell. Und
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