Genom
natürlich herausfinden, dass er sie an der Nase herumführte. Dann würde sie ihm vermutlich eine üble Ärztinnenszene machen und ihn fallen lassen. Doch dieser wahrscheinliche Ausgang war nicht besonders niederschmetternd. Er hatte den Großteil seines Lebens alleine verbracht, da ihn zuerst seine Familie und danach seine Freunde verlassen hatten.
Bis zur unausweichlichen Konfrontation würde er die Aussicht, das Wetter, die Gelegenheiten, die bequeme, von ihr bezahlte Unterkunft und das gute Essen genießen. Es gab nur ein Problem mit dem ansonsten durch und durch zufriedenstellenden Szenario. Es nagte an ihm wie ein Kaktusdorn, der unter seiner Haut abgebrochen war und nun zu eitern begonnen hatte.
Sie vertraute ihm.
Das stand außer Frage. Vielleicht vertraute sie ihm nicht genug, um sich mit ihm ein Zimmer zu teilen, aber im Grunde genommen vertraute sie ihm ihr Leben an. Eigentlich konnte ihn nichts daran hindern, sie an Leute auszuliefern, die für sie ein Lösegeld verlangen konnten, oder an die Regierung oder die privaten Individuen, die so begierig hinter dem Faden her waren. Was war denn schon dabei, wenn er nicht erfuhr, was auf dem Faden gespeichert war, oder weitere Informationen über seine (laut ihrer Aussage) ungewöhnliche Herstellungsweise erfuhr? Er konnte die Belohnung oder Bezahlung, die für seine Wiederbeschaffung ausgesetzt war, einstecken und wieder in der vertrauten Unterwelt von Savannah untertauchen. Er konnte sich für jede dieser Optionen entscheiden. Nur nicht für eine Sache.
Sie vertraute ihm.
Warum das wie eine allergische Reaktion auf Optistashan ihm nagte, begriff er selber nicht. Sie waren keine alten Freunde. Sie war nicht einmal die Freundin eines alten Freundes – nur jemand, dessen professionelle Dienste ihm empfohlen worden waren. Er schuldete Dr. Ingrid Seastrom nichts. Wie sie ihm selbst gesagt hatte, war die kleine Extraktion, die sie an ihm vorgenommen hatte, pro bono ausgeführt worden. Okay, die Deaktivierung der Traktacs war ein unerwarteter Bonus gewesen. Und er hatte versprochen, sie für ihre Arbeit zu bezahlen, aber wenn er das nicht tat, sondern einfach verschwand, was konnte sie da schon machen? Sollte sie die Polizei rufen und ihr erklären, dass er ihr etwas schuldete, weil sie die polizeilichen Aufspürgeräte illegalerweise deaktiviert hatte?
Vertrauen, Vertrauen, Vertrauen – warum setzte ihm das so zu? Es war ja nicht so, dass sein Gewissen größer war als alles andere. Zweifellos brauchte er ein Moralitätsmeld. Dummerweise gab es so etwas seines Wissens nicht. Was bedeutete, dass er mit seinen eigenen unvermeidlichen ethischen Schuldzuweisungen leben musste.
Vielleicht lag es einfach an der Tatsache, dass ihm jemand mit Ingrid Seastroms gesellschaftlichem Status noch nie zuvor vertraut hatte.
Du bist ein Idiot, sagte er sich. Warum gibst du nicht einfach zu, dass du in sie verliebt oder zumindest scharf auf sie bist? Du weißt, dass das nirgendwohin führen wird, und du weißt, dass sie dich immer ablehnen wird, und trotzdem hoffst du weiter. Du machst dich zum Narren. Aber war das nicht genau das, worum es bei der Liebe geht? Selbstbetrug, sich mit den eigenen Träumen und dummen Fantasien etwas vormachen? Du weißt, dass die Liebe nichts als immerwährende Dummheit und ständiger Selbstbetrug ist.
Was immer noch besser wäre, als jeder Zustand, den er inden letzten zehn Jahren erlebt hatte, rief er sich ins Gedächtnis.
»Du siehst aus wie jemand, der eine Zoe gebrauchen kann, Alter.«
Der Meld, der ihn angesprochen hatte, lehnte am wackligen Geländer des Gehwegs. Das Auffällige an ihm, was ihn sofort als Einheimischen auswies, war die Tatsache, dass er nicht auf dem Gehweg, sondern auf der anderen Seite des Geländers stand. Sein außergewöhnliches Beinmeld hatte bewirkt, dass er zwei Meter lange stelzenartige Beine besaß, die in stark gespreizten Füßen endeten, mit denen er sowohl auf Sand und Matsch als auch auf festem Boden stehen konnte. Obwohl er unter dem Gehweg im Wasser stand, konnte er Whispr in die Augen sehen. Das war vermutlich sehr hilfreich, wenn man andere Spaziergänger ansprechen wollte.
Whispr wurde zwar langsamer, antwortete aber nicht sofort, sondern sah sich erst einmal gründlich um. Ein ansässiges Multimeldpaar wanderte Arm in Arm herum. Zu seiner Rechten in einiger Entfernung von den Fußgängerwegen beaufsichtigte ein Natural mit braun gebrannter Haut vier Roboter, die Katzenfisch in einen gekühlten,
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