Genom
»Für eine Freundin und Kollegin mit einem so perfektem Verstand wie perfektem Hintern mache ich das sogar gratis. Gib mir ein paar Tage.«
Sie nickte. »Ich muss zurück in mein Büro. Rudy, du musst mir schwören, dass du mit niemandem darüber sprichst. Nicht einmal mit deinen engen Freunden, mit keiner Menschenseele.«
»Was? Und warum nicht?«
Sie kaute auf ihrer Unterlippe. »Ich habe Grund zu der Annahme, dass noch andere Leute glauben, der Inhalt des Fadens könnte sehr viel wert sein. Einige davon könnten nicht so … nett sein.«
Er kicherte. »Aha! Das ist ein großes Geheimnis. Okay, Inny-grid. Ich werde es niemandem erzählen.« Er hielt die Kapsel ins Licht und sah sich den Inhalt mit zusammengekniffenen Augen an. »Was ist in deinem Inneren, du kleines Fädchen aus unmöglichem metallischem Wasserstoff? Was könnte dich so wertvoll machen, dass Miss Inny besorgt ist? Wissenschaftliche Geheimnisse? Wunder des Universums? Affären von Politikern mit Namen, Daten und Vorlieben? Dr. Rudolf wird es schon aus dir rausbekommen.« Dann senkte er den Blick und grinste Ingrid durch seinen Bart hindurch an. »Spätestens Ende der Woche kann ich dir etwas dazu sagen.«
»Du scheinst dir da sehr sicher zu sein, Rudy.«
Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und spielte den Bescheidenen. »Wenn ich das nicht wäre, würde ich wie meine weniger selbstsicheren Kollegen hin und wieder einen Patienten verlieren. Aber ich verliere nie einen Patienten. Ich rufe dich an, wenn ich was rausgefunden habe.«
Sie nickte. »Nutz den Notruf, wenn es sein muss.« Nachdem sie sich umgedreht hatte und hinausgegangen war, schloss sich die Tür des Privatbüros des russischen Immigranten lautlos hinter ihr.
Rudolf Sverdlosk hielt sich die Kapsel dicht vor die Augen und betrachtete sie durch seine Vergrößerungsgläser. Sie sah absolut nicht bemerkenswert aus. Sie sah auf jeden Fall nicht aus wie etwas, das aus einem Material stammte, das unter den normalen Temperatur- und Druckbedingungen in seinem Büro nicht existieren dürfte. Oder an jedem anderen Ort auf der Erdoberfläche. War das ein Witz? Unter den Ärzten, die im medizinischen Turm arbeiteten, war Ingrid Seastrom für ihr Fachwissen auf mehreren Gebieten bekannt, aber Scherze gehörten nicht dazu. Je länger er über das nachdachte, was sie ihm erzählt hatte, und je länger er den Faden in der Kapsel anstarrte, desto größer wurde sein Drang, mit den Tests und Untersuchungen zu beginnen. Leise summte er ein fast schon vergessenes Lied aus dem Ural vor sich hin.
Erst die Patienten, rief er sich zur Räson. Der Spaß musste bis danach warten.
Er hatte vor, den Faden nach Feierabend einem oder zwei ersten Tests zu unterziehen und falls dabei etwas Nennenswertes zutage kam, die Untersuchung am nächsten Nachmittag gründlicher fortzusetzen. Das rätselhafte Material ging ihm allerdings nicht aus dem Kopf.
Erst nach zweiundzwanzig Uhr trieben ihn die Erschöpfung und seine schmerzenden Augen aus seinem ansonsten leeren Büro in die stickige Nacht hinaus. In einem Café in der Nähe wollte er sich ablenken und etwas ausruhen. Sein Kopf pochte, da er sich so lange bemüht hatte, hinter das Geheimnis des Fadens zu kommen, und in seinem Verstand wirbelten alle möglichen Hypothesen herum. Draußen war es schwül, aber wie jeder gedankenverlorene Wissenschaftlerwar er im Grunde genommen immun gegen jegliches Wetter.
Er war jedoch nicht immun gegen die Aufmerksamkeit seiner Mitbürger.
Das Café lag gleich um die Ecke, und er besuchte es so oft, dass die Kellnerinnen schon genau wussten, was er haben wollte, ohne dass er eine Bestellung aufgeben musste. Er wollte gerade um die Ecke gehen, als das blassweiße Licht an der Wand, das den Bürgersteig erhellte, von drei Frauen verdeckt wurde. Zwei waren Melds. Eine von ihnen, eine direkte Kosmetimaxmeld, hatte das umwerfende Aussehen einer einstigen blonden Schauspielerin namens Monroe angenommen. Im krassen Gegensatz zu ihr war ihre schlanke Begleiterin über zwei Meter groß und schien viele interne Melds zu besitzen. Sverdlosk sah, dass die Knochen ihrer Arme und Beine durch die weitaus beliebteren geschwungenen Condriten ersetzt worden waren. Als Konsequenz daraus waren ihre Arme und Beine steif genug, um ihr Gewicht tragen zu können, obwohl sie fast so geschmeidig wie Tentakel waren. Ihre Ohren liefen spitz aus und steigerten so die Wirkung des Knochenkamms auf ihrem Kopf. Auf beiden Schädelseiten trug sie intensive
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