Gentlemen, wir leben am Abgrund
die Führung schmilzt und verschwindet schließlich ganz. Auszeiten helfen nicht. Frankfurt geht in Führung und gibt sie nicht mehr ab. Alba verliert 72:80. Das letzte Viertel fühlt sich an wie die Niederlage im Bamberger Winter, aber das ist vier Monate her und wir hatten gedacht, jetzt eine andere Mannschaft zu sein.
Die Halle ist fassungslos. Frankfurt hat im letzten Viertel einen 4:25-Lauf hingelegt (Doomsday am Nachmittag). DaShaun Wood hat in der zweiten Hälfte 23 Punkte und 9 Assists erzielt. In der Kabine pfeffert Lucca Staiger das Trikot und die Hose in die Kabinenmitte. Heiko Schaffartzik und Sven Schultze ebenso. Er flucht vor sich hin, er richtet seine Enttäuschung gegen sich selbst, »ein Cheerleader« sei er, »meine Fresse!« Sven weiß, dass er helfen könnte, aber Coach Katzurin hat Schultze, Schaffartzik und Staiger heute keine zehn Minuten aufs Feld gelassen. Zusammengerechnet. »Wir kontrollieren das Spiel«, flucht Femerling, der keine Sekunde Spielzeit hatte. »They can’t do shit!« Er feuert seine Schuhe vor sich auf den Boden. »Und dann werden wir nervös wie kleine Kinder. Fuck!«
Auch in der Niederlage hat jeder von ihnen seine Rituale. Die Spieler sehen zu Boden und versuchen sich zu beruhigen. Ich bin erstaunt, wie schnell ihre Aufregung einer geschäftigen Beherrschung weicht. Sie haben auf dem Spielfeld gestanden und das Spiel aus den Händen gleiten lassen, jetzt wollen sie das Gefühl der Machtlosigkeit loswerden. Manche greifen zum Telefon und tippen, andere kümmern sich um ihre Körper, sie lassen sich dehnen und massieren. Der Doc verteilt zur Regeneration kleine Vitamin-B12-Fläschchen.
Coach Katzurin betritt die Kabine und diesmal verzichtet er auf Tadel und Rügen. »Guys«, sagt er, »wir hatten unsere Chance, wir haben sie nicht genutzt, dieses Spiel ist Geschichte. Jetzt bereiten wir uns auf das nächste vor. So einfach. Morgen ist frei, wir sehen uns Montag um zehn.« Die Coaches verlassen die Kabine, die Spieler verschwinden unter der Dusche.
»It ain’t game over.«
»No need to panic, man.«
» Jебем ти мајку, Иди у пичку лепу материну !«
»Wood’s killing us, man.«
»That’s playoffs«, sagt Jenkins mit dem Handtuch um die Hüften, er ist als Erster fertig und wieder unterwegs. »Clear your head, let’s go!«
Vor der Halle steht Henning Harnisch neben mir, hager vor Enttäuschung. »Man müsste das körperliche Gefühl nach so einem Spiel beschreiben können«, sagt er, und auf dem Weg nach Hause verstehe ich, was er meint. Wir haben nicht auf dem Spielfeld gestanden und verloren, wir haben nur zugesehen. Ich erinnere mich an die Rückfahrten nach Auswärtsspielen. Als Spieler duscht man und konzentriert sich auf das nächste Spiel. Für Zuschauer dauern Niederlagen länger und verschwinden langsamer. Man kann nichts mehr ändern. Wir steigen in ein Taxi Richtung Prenzlauer Berg und sprechen über das letzte Viertel und die Elf-Punkte-Führung und dieses Gefühl. Wir finden keine passende Beschreibung.
»Welche Sportart?«, fragt der Taxifahrer.
»Verloren«, sagt Henning.
Wir steigen Prenzlauer Allee Ecke Jablonski aus und verabschieden uns. Henning gibt immer High Fives (Henning ist auf gute Weise von früher). Ich gehe den Rest des Weges zu Fuß. Etwas umbiegen wollen, das unbiegsam ist, notiere ich auf die Taxiquittung, etwas Kaltes zwischen Kopf und Magen. Als ich die Senefelderstraße entlanglaufe, fällt mir auf, dass die Stadt noch steht. Das Land. Die Welt dreht sich noch, die rechtschaffenen Leute sind immer noch da. Camping hat sich geirrt.
BAD HOMBURG. WIEDER MORGENLAUF MIT KONSTI. 25. Mai 2011, sieben Uhr. Wir erreichen den jüdischen Friedhof oberhalb von Bad Homburg, Obstwiesen und Mückenschwärme, Pollen und eine andere Zeit. Eine Kuh beobachtet uns. Wir sind durch den Kurpark gerannt, vorbei an Kurmuschel und Kunst im öffentlichen Raum, durch ein Villenviertel, hinauf durch den Hardtwald. »Die Führung im letzten Spiel war fake«, keucht Konsti. »Und am Ende wurde uns gezeigt, wie schlecht wir wirklich waren.« Wir treten aus dem Wald hinaus in einen perfekten Sommermorgen. »Ständig fragen die Leute, warum man diesen Job macht, bei dem man die ganze Zeit von anderen abhängig ist. Und welche Trottel man die ganze Zeit durchschleppt.« Wir dehnen uns und laufen dann weiter. »Nicht Trottel, nein«, korrigiert sich Konsti. »Schwierige Psychen. Mit Verlaub.«
Während wir durch den Bad
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