Gentlemen, wir leben am Abgrund
Homburger Mischwald rennen, fasst Konsti die Tage seit dem letzten Spiel zusammen, er sucht und findet harte und dennoch irgendwie herzliche Worte. Bei Tadijas Leistung müsse man sich tatsächlich fragen, ob er nicht das falsche Trikot getragen habe (»Tatjana«, sagen die Coaches, wenn niemand zuhört). Und Miro sei zwar der talentierteste Center der Liga, aber ginge nicht gut mit der anstrengenden Frankfurter Gegenwehr um, Miro gegen Nolte, 300.000 gegen 30.000 Euro. »Wir brauchen Härte statt Tränen«, keucht der Assistent, und in seinem Keuchen pfeift Ironie mit. Konsti kennt die Rhetorik des Leistungssports und scheint immer wieder froh, wenn erdarüber scherzen kann. Wir werden schneller. Staiger könne nach Amerika zwar bestimmt Bibelverse und Burgerrezepte auswendig, sagt der Coach, Helpside Defense könne er noch nicht. »Frankfurt ist wahrscheinlich die einzige Mannschaft der Liga, gegen die Lucca Staiger richtig verteidigen kann.« Wir wenden und laufen zurück Richtung Stadt, es geht bergab. Ein Pferd kommt uns entgegen, im Sattel eine Reiterin im langen weißen Gewand. Die Sonne bricht durchs Blätterdach. Es ist uns fast peinlich, wie unverhofft kitschig die Szene ist. Und wie außergewöhnlich, denn während der Playoffs passieren nur sehr selten Überraschungen jenseits der festgelegten Tagesabläufe.
Katzurin hat Abhärtungsmaßnahmen angeordnet. Im Training sagen sonst immer die Spieler selbst die Fouls an, sie sind dabei fair und wollen sich nicht streiten. Aber seit dem letzten Spiel pfeift Coach Katzurin, und er pfeift absichtlich schlecht. »Kommt schon, Jungs, ich pfeife und nicht ihr. Kein Wunder, dass ihr beim Spiel immer rumheult, wenn ihr keine Pfiffe bekommt. Seid mal hart und kämpft!« Bryce Taylor kühlt sich nach dem Training die Knie und seine geprellte Wurfhand. Rochestie hat nach der bewegten Oldenburg-Serie wieder etwas Stabilität gefunden. Sven Schultze arbeitet gewohnt konzentriert und genau, aber man sieht ihm an, dass er unzufrieden ist. Teil seiner Professionalität ist die Akzeptanz, aber immer wieder und nahezu unbemerkt bricht sein Unmut durch. Coach Katzurin weiß das. »Wenn ich ein Team zusammenstellen müsste«, sagt er, »dann würde ich zwölf Mal Sven nehmen.« Er schätzt ihn für seine Geduld, aber auf der Autofahrt nach Hause sagt Sven fast nichts. Ich habe das Gefühl, dass diese Geduld nicht mehr lange halten wird.
In den Playoffs verdichtet sich das Spiel. Die Zeit ist knapp und wird immer knapper. Die Zustände wechseln schnell, aus Freude wird Enttäuschung, aus Monotonie wird Euphorie. Es gibt keine Pausen. Jeder Tag trägt die Farbe des letzten Spiels. Wir gewinnen in Frankfurt. Wir sind euphorisch. Wir verlieren in Berlin. Wir leiden körperlich. Und schon sitzen wir wieder im Frühstückssaal des Kurhaushotels in Bad Homburg. Man bricht ständig auf, ständig kehrt man zurück. Der Kaffee schmeckt zu Hause am besten. Die Hotels wiederholen sich.Zimmernummern. 210. 212. 611. 3512. 742. Busse, Busse, immer wieder Busse. Die Kapitel werden kürzer. Irgendjemand erledigt die Wäsche.
Wenn es gut läuft, dauern die Playoffs sieben Wochen. Anderthalb Monate, in denen die Mannschaft ständig beieinander ist. Wer sich jetzt nicht konzentriert, scheidet aus. Die Intensität steigt. Wer nicht intensiv spielt, scheidet aus. Man ist im Augenblick, man muss im Augenblick sein, denn das nächste Spiel zählt. Nichts davor und nichts danach. Die Zeit dazwischen vergeht schneller. Der Rest der Saison ist Vergangenheit, sie ist nur eine Vorbereitung auf die Playoffs gewesen. Buffets. Fußgängerzonen. Kabinen. Gesichter. Gespräche. Die Namen der Gegner. Ihre Spielzüge. Die Aussicht aus den Fenstern beim Aufwachen (eine Sechzigerjahre-Hotelfront).
Die gleiche Aussicht auf die Umrisse Frankfurts, als wir in einem Linienbus über die Autobahn zur Halle fahren. Die Coaches gehen noch einmal die Ideen für das Spiel durch: immer frische Beine gegen Wood, also eine größere Rotation und Varianten in der Verteidigung. Katzurin will Wood nach und nach aufreiben und dafür sorgen, dass er im vierten Viertel nicht mehr genug Kraft hat, um das Spiel zu übernehmen. Sven soll als Banger kommen, er soll seinen Körper gegen die Frankfurter werfen und eine Härte ins Spiel bringen, die Frankfurt von Berlin nicht erwartet. Sven soll einschreiten.
Unterwegs telefoniert Baldi mit Miro Raduljicas Berater Ademola Okulaja, der Berliner Basketballlegende. Okulaja ist gleichzeitig
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