Gentlemen, wir leben am Abgrund
Journalist, »wird sich Bauermann nicht in den Arsch beißen, dass Sie in Litauen nicht dabei sind?« Yassin lächelt, aber er ist ein Diplomat vor dem Diktiergerät. Der Journalist spielt mit seiner Frage auf Yassins zweimalige Streichung aus dem Kader der deutschen Nationalmannschaft an und würde gerne über einen Konflikt und über Rache berichten. Yassin beherrscht die Kunst, interessante und zugleich unmissverständliche Antworten zu geben. Er lässt keinen Raum für Komplikationen, und wahrscheinlich hätte wohl jeder Journalist moralische Bedenken, schlecht über Yassin zu schreiben. Er ist entwaffnend ehrlich und albert herum, wenn er herumalbern will, aber niemals ist er unfreiwillig komisch. Heute, kurz vor dem Spiel, macht Yassin Yoga, er steht an der Grundlinie vor dem Frankfurter Fanclub »Skybembels« und biegt sich wie eine Tanne im Wind.
Ich bin zurück auf den Frankfurter Presseplätzen. »Mein Gefühl sagt mir, dass sie heute keine Chance haben«, erklärt Henning Harnisch, »aber vielleicht ist das auch nur mein schlechtes Verhältnis zu dieser Halle.« Vor mir putscht sich ein Fotograf mit klatschenden Schlägen ins eigene Gesicht selbst auf. »Komm schon! Komm schon!«, sagt er und schultert seine Objektive. Baldi verharrt regungslos in der ersten Reihe, das Gesicht in den Händen verborgen, und sieht erst auf, als die Lichter wieder angehen.
Das Spiel beginnt zögerlich. Beide Mannschaften treffen nicht, aber Coach Katzurin rotiert, und seine Taktik geht langsam auf. Er stellt Rochestie, McElroy und schließlich Schaffartzik in Woods Weg. Schon im ersten Viertel verteidigt Alba zweimal die 24-Sekunden-Uhr herunter.Schaffartzik erstickt Wood mit enger Verteidigung, und der gelbe Block schreit. Yassin spielt wieder auf seinem höchsten Niveau, der maskierte Powell trifft keinen Wurf. Lucca Staiger kommt unerwartet früh und verteidigt sehr gut. Bryce mit seiner geschundenen Wurfhand trifft nicht, aber er holt neun Rebounds und springt dabei so hoch, dass sogar die Frankfurter oohen und aahen. Und als Alba in fremder Halle mit 18:43 vorne liegt, schreibe ich nicht zu früh freuen in mein Notizbuch, zu mehr reicht es nicht. Ich klappe das Buch zu und haue gleich darauf jubelnd auf den Pressetisch. Ich werde vom Frankfurter Kollegen neben mir ermahnt. »Wir sind hier Journalisten, keine Claqueure.« Meine eigene Neutralität ist endgültig verschwunden.
Heute ist Frankfurt ohne jede Chance, aber die Erinnerung an das letzte Spiel verschwindet nicht so einfach aus den Köpfen. Immer, wenn der Vorsprung zu schrumpfen droht, greift Coach Katzurin ein und nimmt eine Auszeit. Man hat ständig das Gefühl, dass Frankfurt aufwachen und genauso unfassbar zurückkommen könnte wie im letzten Spiel. In den Gesichtern sieht man das Vier-zu-Fünfundzwanzig von vor drei Tagen noch: Alle befürchten das Unglaubliche.
»Wir leben noch!«, schreit der Hallensprecher im vierten Viertel. Nicht zu früh freuen, schreibe ich, mein magisches Denken ist zurück, das ich noch von früher kenne: Wenn ich nicht zu früh freuen schreibe, banne ich die vorzeitige Freude und trage keine Schuld am Umschlagen der Dinge ins Negative. Aber nichts schlägt um, beim 31:58 sieben Minuten vor Ende hat Alba gewonnen, der Rest ist Verwaltung (Pavi ć evi ć hätte in Minute 33 seine Anzugjacke wieder angezogen). Auswärtssieg, 52:68.
Wir lernen aus der letzten Woche. Als die Mannschaft im Bus sitzt und die Fans die Spieler noch einmal sehen wollen, verbieten Demirel und Baldi den Tanz und den Jubel und ordnen die sofortige Abfahrt an. Zurück im Hotel in Bad Homburg gibt die Rezeptionistin Yassin seinen Zimmerschlüssel. »Ich hab’s im Fernsehen gesehen«, sagt sie. »Geiles Spiel, geiles Spiel!« In Dominiks Bar sitzen heute keine Endokrinologen, und Dominik steht allein am Tresen. Wir winken aus sicherer Entfernung. Wieder gibt es Steak und Pommes zur Belohnung, dazusechs verschiedene Fleischsalate. Die Schlagzeilen der deutschen Zeitungen werden von Ehec bestimmt, der Seuche der Stunde. Niemand feiert. »Abfahrt morgen 9.30 Uhr«, sagt Coach Katzurin. Die Spieler verschwinden in ihren Zimmern. Die Manager ziehen sich zurück.
Am nächsten Morgen steht Konsti um halb sieben in seinem Hotelzimmer zwischen halbgepackten Taschen und seinem Analysematerial und gibt den viel zu früh viel zu wachen Morgenmenschen von Kiss FM ein Interview. Konsti hat die Nacht durchgearbeitet, er will nichts Falsches sagen und kann nichts Großes
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