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Gentlemen, wir leben am Abgrund

Gentlemen, wir leben am Abgrund

Titel: Gentlemen, wir leben am Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pletzinger
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sogar auf den teuren Plätzen in den ersten Reihen wird gestanden und krakeelt. Wir halten abwechselnd die Luft an und schreien wie von Sinnen, wir beschwören oder beten, wir sehen, wie Bryce und Yassin ein hohes Pick & Roll versuchen, wie dann aber ein Give & Go daraus wird, weil Bryce eine Lücke in der Verteidigung ausgemacht hat, die niemand sonst gesehen hat. Er geht backdoor, bekommt den Ball und geht zwischen De Mello und McKinney hart zum Ring.
    Aber er trifft nicht.
    Kein Foul, kein Pfiff, die Uhr läuft weiter. Die Frankfurter bekommen den Rebound nicht unter Kontrolle und irgendwie kriegt Yassin eine Hand an den Ball. Noch sieben Sekunden. Und weil die Jungs plötzlich die Nerven behalten, das Feld instinktiv weit machen und sechs-, siebenmal schneller passen, als die Frankfurter rennen können, läuft die Zeit just in dem Augenblick ab, als Yassin den Ball zur Hallendecke streckt wie Lothar Matthäus den WM – Pokal 1990. Das Spiel ist aus. Yassin donnert den Ball aufs Parkett, Tadija springt auf seinen Rücken. Yassin geht mit erhobenen Armen zurück zur Bank und verschwindet im Jubel der Jungs. 80:81.
    Eins zu null.
    »Ich habe Yassin unterschätzt«, sagt Konsti im Bus zurück nach Bad Homburg. »Der ist ein richtiger Baller. Der will einfach zeigen, dass er spielen kann.« Im Bus wird nicht gesungen und gefeiert, aber zum allerersten Mal seit Wochen, vielleicht seit Monaten, habe ich das Gefühl, dass in dieser Saison mit dieser Mannschaft noch etwas gehen könnte. Vielleicht, sagen die erledigten Gesichter im roten Nachtlicht des Reisebusses, vielleicht, vielleicht. Ein eigentümliches Gleiten durch die Nacht, leise hört man die Musik aus den Kopfhörern. »Nach solchen Spielen brauche ich kein Video«, sagt Bobby, »ich habe jede Aktion im Kopf.« Der kleine Mann hat die Krawatte gelockert, er notiert und überlegt und massiert sich die Schläfen. Als er Coach Katzurin seine Notizen und Meinungen hinüberreicht, seufzt er.
    »Coach, ich bin zu alt für diesen Mist. Ich brauche drei Millionen Dollar und dann gehe ich zu Fidel nach Kuba.«
    Der Coach nimmt die Papiere und grinst. »Drei Millionen, Bobby?«,sagt er, »bleib lieber bei uns. Fidel nimmt dein Geld und hängt dich auf. Bei uns gibt es Pommes zur Belohnung.«
    Euphorie liegt in der Hotelbar im Erdgeschoss des Maritim-Hotels Bad Homburg. »Da ist Luft nach oben«, sagt Mithat. Dem Manager kommt heute ausnahmsweise die Doppeldeutigkeit abhanden, er hat echte Freude im Gesicht. Baldi und Mithat wirken befreit. Der Barkeeper Dominik macht das Geschäft seines Lebens. Am Tresen lehnen fünfzig Endokrinologen aus aller Welt, die tagsüber Vorträge zu Diabetesprodukten gehört haben (Lilly Pharma). Jetzt trinken sie bunte Cocktails und werfen mit gesalzenen Nüssen. Die Laune ist bestens, Dominik hat das Spiel auf den Bildschirmen über der Bar laufen lassen, wir werden mit Schulterklopfen begrüßt. »Geiles Spiel, Alter!«, sagt ein Internist aus Bamberg, als er mir auf den Rücken haut (ausgerechnet Bamberg).
    Die Endokrinologen spendieren uns Getränke. »Erstens haben wir ohne Jenkins gespielt«, sagt Demirel. »Und zweitens haben die Schiedsrichter heute gar nichts gepfiffen, und trotzdem hat niemand rumgeheult und sich beschwert. Und Bryce hat bestimmt seit der High School nicht mehr so oft geworfen und so oft nicht getroffen. Trotzdem gut. Er hat Löcher gerissen.« Zum ersten Mal, seit ich mit der Mannschaft unterwegs bin, vergleicht Mithat Katzurins Team mit Luka Pavi ć evi ć s Mannschaft.
    »Und Yassin«, sagt er, und seine Stimme klingt fast ein wenig stolz dabei, »Yassin hätte vor einem halben Jahr niemals so smart gespielt. Dieser Block!«
    Mithat und Baldi heben ihre Gläser und fachsimpeln mit Dominik über Rumsorten. Wir lachen mit den Endokrinologen. Gegen Mitternacht setzt sich Mithat Baldis Lesebrille auf die Nase und sieht aus wie Professor Mika. Dominik spielt Raritäten, die Endokrinologen verabschieden sich singend, mitten in der Nacht steht Mac an der Bar und holt Eis für seine geplatzte Lippe. Wodka für alle, Vorsicht über Bord! Wir sagen zu, dass wir nächste Woche den Einzug ins Finale bei Dominik feiern werden. »Yassin«, sagt Marco Baldi und hebt sein Glas, »Yassin ist der Marvin Gaye des deutschen Basketballs.«
    »Raduljica ist Ivan Rebroff«, sagt der Barkeeper. Ich bemerke meineeigene Erleichterung über die Führung. Ich nehme mir vor, heute Abend zehn Zahnputzbecher Wasser gegen das böse Erwachen

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