Gentlemen, wir leben am Abgrund
versprechen.
»Wir freuen uns, aber es gibt keinen Grund für hemmungslose Euphorie«, sagt er und klappt seinen Rechner zu. In den Playoffs packt man ständig ein oder aus, man begrüßt die Orte, man verabschiedet sich von ihnen. Nie weiß man, was die nächsten Tage bringen. Also ein letzter Lauf durch den Märchenwald über der Rhein-Main-Ebene, durchObstwiesen und Lichtflecken. Insgeheim rechnen wir nicht damit, noch einmal nach Frankfurt zu müssen. Aber das sagen wir nur den Kühen über der Stadt.
BERLIN, 29. MAI 2011. Zurück in Berlin hat es einen halben freien Tag gegeben, dann Video, Training, Spannung halten. Irgendwie versuchen, den Takt und die Intensität aus Frankfurt nach Berlin zu retten. Die Frankfurt-Serie ist ein schnelles Hin und Her, ein Austeilen und Einstecken (One for You, One for Me) . Bei einem Sieg hätte man ein paar Tage Zeit und könnte sich auf die Final-Serie vorbereiten. Niemand spricht darüber, aber aus der Entfernung beobachten alle die Bamberger, die in der zweiten Playoffrunde unerwartete Probleme mit den Artland Dragons haben. Alle wissen, dass die deutsche Meisterschaft über Bamberg laufen wird, aber keiner verliert ein Wort darüber. Die prophylaktischen Hotelbuchungen werden diesmal klammheimlich erledigt. Der Bus ist bestellt, der dicke Micha weiß Bescheid.
Und plötzlich fehlt Staiger. Zur Videoanalyse ist sein Platz leer. Niemand hat etwas gehört, er hat sich nicht abgemeldet. Die Jungs rufen ihn an, aber er geht nicht ans Telefon. Sie hinterlassen Nachrichten, aber Staiger ruft nicht zurück. Sorgen und Spekulationen wechseln sich ab. »Ich kannte mal einen im College«, sagt Femerling. »Der lag ein paar Stunden in der Dusche, bis er gefunden wurde.«
»Schlechtes Sushi.«
»Staiger hat Ehec. Der hatte eine spanische Gurke zum Abendessen.«
»Der hat kein Ehec, der hat gesoffen.«
»Lucca ist eine spanische Gurke.«
»Seine Jungs aus der Urspringschule sind da.«
»Ein gutes Spiel gemacht, die Freunde in der Stadt: Da muss man feiern.«
»Ganz im Ernst. Heult das ganze Jahr rum, dass er Spielzeit will. Und dann macht er sowas. 22 Jahre alt, spielt bei Alba Berlin, und dann macht er so was. Weißt du, was ich dafür gegeben hätte mit 22?«
Coach Katzurin bemerkt Staigers Fehlen, schüttelt den Kopf und bespricht dann die Schwächen Frankfurts. In den Videoclips sieht man Staigers beste Saisonleistung in der Verteidigung.
Im Profibasketball ist unentschuldigtes Fehlen ein bedeutsames Vergehen, weil es auf vielen Ebenen die gemeinsame Arbeit boykottiert. Unentschuldigtes Fehlen ist respektlos, es untergräbt den Teamgeist und bedeutet Verantwortungslosigkeit. Das Training kann nicht wie geplant durchgeführt werden. Disziplin ist notwendig, um als Team durch eine Saison zu kommen.
»Sushi?«, fragt jemand in der Kabine. »Hat er wirklich Sushi gesagt?«
Eine Fischvergiftung scheint wie eine billige Ausrede, also macht sich der Doc auf den Weg, Kamillentee und Zwieback in der Hand. Später gibt er Entwarnung, er hat Staiger selbst und tatsächlich auch den Eimer neben Staigers Bett untersucht. Kein Alkohol. Und weil der Doc nicht unehrlich sein kann, glaubt man Staiger die Sushi-Story. Er sei abends beim Japaner gewesen und habe dann die ganze Nacht auf den Knien vor dem Klo verbracht, sagt der Doc, und als er endlich habe schlafen können, habe er geschlafen. Und jeder weiß, dass Staiger immer und ausdauernd schlafen kann (manchmal verschläft er Tommys Weckanrufe).
Am Spieltag geht es Staiger immer noch nicht besser, aber er steht in der Halle. Katzurin schickt ihn in die Kabine, Lucca schleicht aus der Halle. Er sieht niedergeschlagen aus, denn sicherlich wird er abends nicht im Vollbesitz seiner Kräfte sein. Das Shootaround verläuft ansonsten reibungslos. Am Nachmittag trifft sich der Kaffeeclub über den Dächern von Berlin und isst Himbeertorte. Die deutschen Spieler reden über Tarantino und Inglorious Basterds, Israel und den Nahen Osten. Sie erzählen vom Frankfurter Kapitän Pascal Roller, für den dieses Spiel wahrscheinlich das letzte seiner Karriere sein wird. Wenn wir gewinnen. Coach Katzurin beschränkt sich vor dem Spiel auf eine technische Rede. Er betont Rebounds und die Intensität in der Verteidigung, diesmal verzichtet er auf die motivatorischen Floskeln. »They know«, sagt er, als wir die Halle betreten.
Und dann liegen wir 16:0 zurück. »Schwer zu begreifen«, wird CoachKatzurin in der Pressekonferenz nach dem Spiel sagen.
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