Gentlemen, wir leben am Abgrund
Die Halle ist voll, und Bürgermeister Wowereit sitzt im Publikum. Über dem Gästetunnel haben die Frankfurter Fans ein riesiges Poster mit einem Brathähnchen im Alba-Trikot gehängt. Das Spiel über rennt Berlin dem Rückstand und den Frankfurtern hinterher, 9:29, ein Rückfall in alte Muster. Wir verlieren das Reboundduell zwanzig zu zehn.
Wood wirft heute mehr, und er trifft. 33:49 steht es zur Halbzeit.
»Beschwert euch nicht über alles und jeden«, sagt der Coach. »Keine Panik. Konzentriert euch. Ihr habt zwanzig Minuten, um das Spiel zu gewinnen. Spielt nicht wie das Hühnchen auf dem Poster.« Dann wiederholt er all die Dinge, die in den letzten Tagen und Wochen gesagt worden sind.
Als er fertig ist, fängt Sven Schultze an zu klatschen, weil er immer zu klatschen anfängt, wenn die Ansprache vorbei ist und das Spiel weitergeht. »Let’s go, guys«, ruft er, »come on!« Aber Coach Katzurin legt den Finger an die Lippen. Die Mannschaft stockt und bleibt verwundert sitzen. Das übliche Ende für die Kabinenpredigt ist immer Sven Schultzes Klatschen und Anfeuern. »Ich kenne dieses ›Come on, come on!‹«, sagt der Coach. »›Come on, come on!‹ heißt: Wir haben keine Ahnung.« Die Mannschaft wirkt verblüfft, dass der Coach ihrem Motivator über den Mund fährt. Katzurin lässt sich sein Taktikbrett reichen und entwirft eine neue Verteidigungsvariante.
Ich höre nicht mehr zu, sondern notiere mir die Reaktion der Kabine. Die Spieler starren auf das Taktikbrett oder durch das Taktikbrett hindurch ins Leere. Es herrscht regelrechte Verwirrung, ein solcher Augenblick könnte der Moment sein, in dem ein Trainer seine Mannschaft verliert. Coach Katzurin weiß, dass ihm im Eifer des Gefechts ein Fehler unterlaufen ist, er hat sich in der Fremdsprache und im Basketballvokabular härter ausgedrückt, als es seine Absicht war. Während der Coach spricht, sieht er immer wieder zu Sven hinüber.
»Und jetzt«, sagt der Coach, als wolle er sich für die Zurechtweisung seines alten Haudegens entschuldigen. »Let’s go!«
Basketballspiele laufen in Wellen ab. Katzurins Verteidigungsvariante funktioniert und Alba startet mit einer 15:0-Serie in die zweite Halbzeit. Alba ist bis auf einen Punkt heran, die Halle steht Kopf. Dannbricht die Welle, die Frankfurter kommen zurück und legen nun ihrerseits eine Serie hin, Pascal Roller trifft zwei wichtige Dreier. Frankfurt gewinnt mit 74:83.
Playoffserien passieren in Wellen. Heute Nachmittag haben die Spieler noch über Pascal Rollers Karriereende gesprochen, jetzt liegt das eigene Saisonende in der Luft. Tadija Dragi ć evi ć ist der Unmut anzusehen, Yassin Idbihi ist mit sich und dem Spiel unzufrieden, Sven Schultze wirkt regelrecht wütend. Der Matchball ist vergeben, die Serie steht zwei zu zwei, und mit einem weiteren Auswärtssieg in Frankfurt will niemand rechnen. Marco Baldi steht nachdenklich und allein auf dem Balkon der O2 World und raucht, in der Hand ein Weizenbier, sein Ritual für Niederlagen. »Einen schönen Abend noch«, sagt Max Drübeck, der heute ausnahmsweise mal am Ausgang steht. »Was ist in diesem Jahr eigentlich los?«, fragt er höflich.
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FEMERLINGS KNOCHEN
BERLIN, 6. APRIL 2011
FEMERLING SAGTE, ER KÖNNE MICH MITNEHMEN. Ich musste zum Bahnhof, er musste zur Reha. Es war kurz vor Ostern und der Kapitän ging seit Wochen jeden Tag ins Rehazentrum an der Friedrichstraße und zum Physio im Trainingszentrum. Er wollte zurück in die Mannschaft. Morgens brachte er seine Tochter zum Kindergarten, dann fuhr er mit dem Fahrrad quer durch die Stadt zum Trainingszentrum, egal bei welchem Wetter. Wenn es regnete, trug der Kapitän Ölzeug. Jeden Morgen hob er Gewichte und fuhr stundenlang auf dem Ergometer, erst mit stillgelegtem rechten Sprunggelenk, später mit getaptem Knöchel. Jeden Morgen kam der Physio und Femerling ließ seinen Körper dehnen, ausstreichen und elektrotherapieren.
Heute war er mit dem Auto unterwegs, er hatte dieses und jenes zu erledigen, denn seine Frau Caroline arbeitete, und dieses und jenes musste erledigt werden. Einkauf, Apotheke und so weiter. Mia musste vom Kindergarten abgeholt werden. Patrick Femerling ist ein Familienmensch.
Wir stiegen in sein schwarzes Porsche SUV , das riesig war, aber für Patrick Femerlings Körper gerade groß genug. Der Kapitän ist für viele der größte Mensch, den sie jemals mit eigenen Augen gesehen haben. Aus den Fenstern des Trainingszentrums drangen die dumpfen
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