Gentlemen, wir leben am Abgrund
Ferne, graues Haar und Freundlichkeit aus der Nähe. Schultze war schon zweifacher Vater und deshalb morgens um sieben viel wacher als die anderen Spieler. Er galt als disziplinierter Musterathlet, er war eine Maschine. Auf dem Spielfeld war er wegen seiner Härte gefürchtet, in der Kabine war er Wortführer und Witzbold. Er hatte die letzten Jahre in Italien und Griechenland gespielt, jetzt war er mit seiner Familie zurück in Berlin. Schließlich hielt das riesige schwarze Porsche- SUV des Kapitäns mitten auf der Straße. Patrick Femerling stieg aus und ging mit langsamen Schritten zum Bus, seine Tochter auf dem Arm.
An Femerling erinnere ich mich, wenn ich mich an mich selbst erinnere: Wir sind beide Jahrgang 1975, wir hatten mit fünfzehn, sechzehn oft gegeneinander gespielt, Düsseldorf gegen Hagen. Femerling war damals riesig, dünn und blass gewesen. Ich trug Zopf und Stirnband. Wenn ich Patrick Femerling in den letzten Jahren gesehen hatte, zumeist im Fernsehen, hatte ich mich immer wieder an einen Dunking erinnert, im Grunde den einzigen, an den ich Erinnerungen hatte. Es muss in einer Leverkusener Turnhalle gewesen sein, etwa im Sommer 1992. In meiner Erinnerung verteidigt mich ein Düsseldorfer Flügelspieler, ich täusche und gehe an ihm vorbei, Femerling kommt unter dem Korb zur Hilfe. Er will mich blocken, aber es gelingt ihm nicht.
Später ging Femerling an die University of Washington nach Seattle, spielte für die Huskies und wurde deutscher Rekordnationalspieler. Ich wurde aussortiert und ging zu Indierock-Konzerten. Patrick Femerling spielte seit fünfzehn Jahren professionell Basketball, er hat in seiner internationalen Karriere fast alles gewonnen, was man gewinnen kann. Auch ein paar deutsche Meisterschaften mit Berlin. Seine vierjährige Tochter Mia war in Athen geboren und hat in Sevilla Spanisch gelernt. Femerling sah an mir vorbei, er schien sich nicht an mich zu erinnern. Wie sollte er auch: Meine Laufbahn war zu Ende, als seine begann. Patrick Femerling küsste seine Tochter auf die Stirn und stieg in den Bus. »Herzlich willkommen, liebe Kinder!«, sagte er wie eine Kindergärtnerin. »Schön, dass ihr alle da seid.« Dann faltete er sich in seinen Sitz, 2,13 Meter, seine Gelenke quietschten. Wir waren fast komplett, nur Jenkins fehlte noch. Die Spieler nahmen ihre Plätze ein, die sie bis zu Saisonende nicht mehr abgeben würden. Es würde ein turbulentes Jahr werden, aber die Plätze im Bus würden bleiben.
Der Tag wäre günstig gewesen für einen Neuanfang. Es hatte aufgehört zu regnen und Berlin zeigte kurz, was es konnte: Der Bus bog am Checkpoint Charlie ab, am Brandenburger Tor brach die Sonne durch die Wolken, die Straße des 17. Juni strahlte feucht. Aber Julius Jenkins war zehn Minuten zu spät gekommen, alle hatten gewartet und dem Sprühregen zugesehen. Der Coach hatte mit den Assistenten gesprochen, alle hatten die Uhr im Blick. Dann war Julius Jenkins aus dem Taxi gesprungen und ohne ein Wort hinten eingestiegen. Dreads und Kopfhörer, er erhielt das höchste Gehalt und erzielte die meisten Punkte. Er hatte sich grußlos auf seinen Platz in der letzten Reihe gesetzt, der coolste Typ im Schulbus. Micha hatte die Türen geschlossen und war sofort losgefahren.
Die Stimmung war trüb, Pavi ć evi ć war verärgert. Nicht so sehr über Jenkins’ Verspätung, sondern darüber, dass seine Regeln missachtet und seine Autorität noch vor Saisonbeginn untergraben worden waren. Alle wussten, dass es spürbare Konsequenzen geben würde. Jenkins würde eine Strafe zahlen müssen, ehe der Strafenkatalog überhaupt verkündet worden war.
Pavi ć evi ć schrieb Textnachrichten, Demirel telefonierte auf Türkisch,Lwowsky las den Pressespiegel der letzten Tage. Profisport ist ein Geschäft, und der Mannschaftsbus ist ein Büro. Die Spieler sprachen leiser als erwartet: vom Sommer in den slowenischen Bergen, der ihnen bevorstand, von Professor Mikas berüchtigten Shuttle-Läufen, von ihren Körpern und Verletzungen. Sie sprachen vom letzten Jahr, von den bitteren Niederlagen am Ende, von den Neuigkeiten aus ihrer Welt. Von der letztjährigen Mannschaft waren nur noch McElroy, Jenkins und der junge Seiferth im Kader, der Rest war neu oder zurückgekehrt. Und dann stand an einer Ampel plötzlich ein Alba-Mülllaster neben dem Bus, ein riesiges Bild von Steffen Hamann auf der Seite.
Hamann hatte das Gesicht Alba Berlins sein sollen. Er war ein Spieler, der kämpfte und verteidigte,
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