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Gentlemen, wir leben am Abgrund

Gentlemen, wir leben am Abgrund

Titel: Gentlemen, wir leben am Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pletzinger
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lachen, eine irritierende Humorlosigkeit liegt in der Luft. Ihre kindliche Determiniertheit gibt mir auf einmal ein ungutes Gefühl.
    Im Spielertunnel wartet Ravi Sharma von Sport1 und fragt Sven, ob dieses Spiel für ihn als Bamberger besondere Bedeutung habe. Sven sieht zu Boden. Nein, sagt er diplomatisch, das sei das Finale, es gehe hier nicht um ihn und Bamberg, es gehe um die Deutsche Meisterschaft.
    Die Gästekabine ist Teil des Spiels. Es gibt professionelle Kabinen, es gibt Schulumkleiden. Die Gästekabine ist immer ein Signal an den Gegner. Wenn man die Gästekabine betritt, wird einem klar, was man zu erwarten hat. Die Gästekabine setzt den Tonfall. In Berlin ist die Gästekabine größer als die der Heimmannschaft, hier zieht sich sonst eine Eishockeymannschaft um. Sie hat ein Ermüdungsbecken, es gibt kalte Getränke, es gibt ein Therapie- und Massagezimmer. In Oldenburg sind die Kabinen hellhörig wie ein Zeltplatz. Während der Besprechung hört man die Spülung der Toiletten und Musik von irgendwoher. Man wird herzlich begrüßt und bekommt frischen Kaffee – aber dann wird man mit einer Niederlage nach Hause geschickt. In Quakenbrück steht ander Kabinentür »Mädchen«. Die Spieler passen kaum auf die schmalen Bänke und direkt nebenan hat »Tobi der Drache«, das Quakenbrücker Maskottchen, eine Kabine ganz für sich allein. In Sevilla sind die Wände aus kahlem Beton und vor der Tür wacht ein uralter Mann mit Cowboyhut und Winterjacke wie ein Totengräber über die Gäste. In Caserta steht »Ultras for Life« über den Spülsteinen (Piccolo erzählte mir die Geschichte von der Besetzung der Halle durch die Fans, von Morddrohungen und dem Zwang, zu siegen). In Frankfurt sind die Kabinen nagelneu und nüchtern, zwei riesige Räume, und dazwischen etliche Duschen, Bäder und Gänge. Ein verwirrendes Konstrukt, in dem die Gastmannschaft die Übersicht verlieren soll und ihre Mitspieler aus den Augen. In diesem Jahr hat es nicht geholfen.
    Die Bamberger Gästekabine ist eine unmissverständliche Ansage. Ihr sollt euch hier gar nicht erst wohlfühlen, sagt sie, ihr könnt gleich wieder gehen. Ihr wollt gleich wieder gehen. Der Linoleumboden ist ungewischt, die Reste des zuletzt zerschlagenen Gegners Artland Dragons sind zur Abschreckung überall im Raum verteilt, Bananenschalen unter der Bank, Socken auf den Jackenhaken, die vergeblichen Taktikbretter und Tape-Rollen in der Ecke. An einem Ende des Raums steht ein orangener Blechspind, jemand hat »Wir holen uns den Titel zurück, Alba Berlin, oder er geht nach Bonn« mit schmieriger Handschrift auf das Blech geschrieben, ein Kaugummi als Komma. Niemand weiß, wer das geschrieben hat und von wann es stammt. Niemand weiß, was es bedeuten soll. Der Physio versucht, seine Liege aufzubauen, aber zwischen drei Waschmaschinen und mehreren Wäscheständern voller Wischmopps ist kein Platz für die Pflege der geschundenen Gästeknochen. Fliegen kreisen um den Mülleimer wie Geier um ein totes Tier. Ein vergessenes Playbook der Dragons liegt in der Dusche, sämtliche Systeme liegen offen, sämtliche Pläne sind nutzlos gewesen. Die Halle ist zu hören, ein bedrohliches Dröhnen und Krachen. »Nichts hat den Dragons geholfen«, sagt uns die Kabine, »und euch wird auch nichts helfen. Auch eure Überreste bleiben hier.«
    Coach Katzurin belässt es bei technischen Anweisungen. »Don’t be naive, guys«, wiederholt er zum Schluss noch einmal. »Die wollen unsgleich im ersten Viertel killen. Wir müssen von Anfang an da sein.« Dann Huddle, dann noch einmal fünf Minuten Zeit für Aspirin und Eis und Tapes, vier Minuten unter Kopfhörern, drei Minuten auf der Toilette, zwei Minuten am Telefon, eine Minute der Selbstvergewisserung. Dann: Schweigen. Schweigen mit Alba Berlin in einer winzigen und unfassbar verlotterten Kabine, notiere ich, kurz vor dem ersten Finale um die deutsche Meisterschaft. Während der ganzen Saison habe ich nicht daran gedacht, aber jetzt fällt mir auf, dass nur Spieler und Trainer in der Kabine sind. Und ich. Ich bin mittendrin. Wir schweigen.
    Die Spieler sitzen im Vorraum zur Hölle und warten. Das Dröhnen wird lauter, die Bamberger werden jetzt die Halle betreten. Dieses erste Dröhnen ist eine harmlose Ouvertüre des unfassbaren Lärms, der hier bei großen Spielen herrscht.
    »Darüber haben wir das ganze Jahr gesprochen, dafür haben wir das ganze Jahr gearbeitet!« Zwischen Waschmaschinen und Reinigungsequipment bricht

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