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Gentlemen, wir leben am Abgrund

Gentlemen, wir leben am Abgrund

Titel: Gentlemen, wir leben am Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pletzinger
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die Bamberger, und ich frage mich, was genau zu dieser Abneigung geführt hat. Bamberg führt, dann holt Berlin auf, 19:18. Das Finale hat begonnen.
    Einer der beiden Schnurrbartträger in der ersten Reihe hinter der Bank gerät langsam in Wallung. Er sitzt zwar leicht erhöht, aber wenn die Spieler aufspringen und anfeuern, nehmen sie ihm die Sicht. Setzen! Als das Spiel Fahrt aufnimmt, verliert der Schnurrbart die Fassung. Er nölt in Tommys Ohren, wenn der seine Handtücher sortiert, er brüllt auf Femerling ein, wenn er sein Handtuch schwingt. Er flucht und zetert und lamentiert. Er habe bezahlt, um Bamberg spielen zu sehen, also sollen sich die Berliner Spieler setzen. Ein Theaterbesucher, der die Schauspieler beschimpft. Schließlich beginnt er, Tommy auf die Schulter zu tippen, wenn der in seine Nähe gerät. Tommy ist sichtlich bemüht, den Mann zu ignorieren, aber er scheitert. Der Schnurrbart scheint das Spiel aus den Augen zu verlieren, für das er bezahlt hat. Seine ganze Konzentration gilt jetzt der Bank und dem Teambetreuer vor ihm. Er hält die Hand zum Tippen bereit in die Luft, und als Tommy wieder in seine Nähe kommt, tippt er zu.
    Tommy Thorwarth ist einiges gewohnt, aber als er sich umdreht und die Hand des Schnurrbarts von seiner Schulter entfernt, als er den zudringlichen Mann aus seiner Privatsphäre stößt, wird er Zeuge eines unerwarteten Schauspiels. Der Schnurrbart sinkt zurück auf seinen Sitz, als könne er sich nicht zwischen Herzanfall und K.   o.-Schlag entscheiden. Vielleicht sogar ein Blitz. Es kommt zu Gebrüll und Gezeter. Sicherheitsleute werden hinter die Bank beordert. Ich fotografiere, und als mein Fotografieren bemerkt wird, wird von irgendwo gespuckt, aber mein Bamberger Nachbar getroffen. Die Rotze läuft seine rote T-Shirt-Schulter hinab. Der Schnurrbart brüllt und klatscht weiter.
    Aggressive Grundstimmung & Kleingärtnerhass, notiere ich und bemerke dabei meine eigene Aufregung, meine eigene vollkommene Parteilichkeit. Mir ist klar, dass die Bamberger Kulisse von ebendieser Aggressivität lebt. Bamberg hat nichts zu verschenken. Bamberg will nicht freundlich sein, Bamberg will Meister werden. Eine großartige Kulisse, aber auch ich will eine Meisterfeier beschreiben, deshalb bin ich seit zehn Monaten unterwegs. Ich bin nicht neutral, ich bin es nie gewesen. Für den Rest des Spiels sieht der Schnurrbart zufrieden aus, denn er hat erreicht, was er wollte: Die Kulisse ist in unseren Köpfen angekommen.

    In der zweiten Halbzeit nutzen die Bamberger die Berliner Schwächen besser aus, sie sind härter und kompromissloser. Es ist, als setzten sie jetzt konzentriert um, was das Publikum verlangt. Es ist, als hätten sie die erste Halbzeit gebraucht, um unsere Schwächen zu erkennen, um sie nun gnadenlos zu nutzen. Und weil die Schiedsrichter genauso pfeifen wie erwartet, setzt sich Bamberg ab und gewinnt am Ende 90:76. Ein deutliches Ergebnis für ein knappes Spiel.
    In der letzten Szene macht sich Bryce gegen John Goldsberry frei, und der Direktor des Bamberger Spiels knickt um. Der Bamberger Coach sieht nach Abpfiff nach seinem Regisseur, anstatt den Berliner Coaches die Hand zu reichen. »Arrogant bastard«, sagt Bobby und verschwindet im Tunnel.
    In der Kabine bleibt die Stimmung hitzig. »Das sind die Playoffs«, flucht Femerling. »Die hauen uns eine rein und wir geben denen die Hand? Fuck! This is the playoffs, fuck!«
    Berlin hat verloren, aber niemand lässt die Köpfe hängen. Alle wissen, dass die Serie gerade erst begonnen hat. Alle wissen, dass Julius heute nur drei Punkte erzielt hat. Dass McElroy vor Zahnschmerz und Schlafentzug neben sich stand. »Wir haben gegen zwölf Mann gespielt, gegen 8000 Leute und drei Schiedsrichter«, sagt Derrick Allen, der für die wichtigen Zusammenfassungen zuständig ist. »Wir müssen aufhören, uns mit dem ganzen Bullshit zu beschäftigen. We have to fucking focus! Wir sind ganz nah dran.«

    8. JUNI 2011. Coach Katzurin gerät unter Beschuss. Während der Fernsehübertragung des ersten Finalspiels hat Frank Buschmann, der kommentierende Basketballeuphoriker vom Fernsehsender Sport1, die Wechseltaktik des Coaches kritisiert. Zumindest wird uns das nach dem Spiel erzählt. Katzurin würde die Spieler verunsichern, die schnellen Wechsel würden den Rhythmus des Teams zerstören. Zwischen Heiko Schaffartzik und Taylor Rochestie stimme die Chemie nicht, soll Buschmann gesagt haben. Bei einem Wechsel hätten sich die beiden

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