Gentlemen, wir leben am Abgrund
unschöne Worte gesagt. Nach dem Spiel soll Buschmann zu Mithat gekommen sein, um sich zu erklären oder zu rechtfertigen. Aber die Basketballweltist klein. Buschmanns Kritik ist noch während des Spiels in den Internetforen diskutiert worden, seine Formulierungen sind zitiert und wiederholt worden, sie sind längst als Tatsachen im Umlauf.
Nach dem Spiel standen die Berliner Journalisten zunächst noch im Tunnel vor der Kabine, und ihre Artikel am nächsten Morgen waren Beobachtungen aus erster Hand. In den Tagen nach dem Spiel tauchen Buschmanns kritische Bemerkungen dann auch in einigen Zeitungen auf. Plötzlich ist die Rede von einem Chemieproblem auf der Aufbauposition und von der Planlosigkeit des Trainers (»Chaos-König« wird der Coach genannt).
Basketballspiele kann man auf völlig unterschiedliche Weise lesen, notiere ich. Jeder sieht, was er sehen kann. Jeder sieht, was er schon kennt. Jeder sagt, was er weiß. Alle wollen erkennen, woran sie sowieso glauben. Über Spielerzwist und Coachingfehler zu schreiben, ist oft einfacher und für die meisten spannender, als die komplexen taktischen Überlegungen zu durchschauen und zu besprechen. Was die Zeitungen schreiben und was die Zuschauer sehen, unterscheidet sich in der komplex anspruchsvollen Playoff-Zeit sehr deutlich von den Strategien und Überlegungen, an denen die Mannschaft arbeitet. Ich habe Mühe zu folgen.
Basketball wird auf einer Bühne gespielt, fast wie ein Theaterstück. Die Mannschaften sind die Schauspieler, der Trainer führt Regie, die Manager sind die Intendanten. Die eine Hälfte des Spiels ist eine Aufführung, Macbeth meinetwegen. Der Rest ist Improvisation. Das Publikum leidet mit, ist wütend oder trauert. Wenn das Spiel vorbei ist, nimmt der Zuschauer seine Gefühle mit nach Hause, die Journalisten schreiben über die Inszenierung und das Stück. Aber die Schauspieler gehen in die Kantine und kehren in ihr Leben zurück, Macbeth und Macduff trinken gemeinsam ein Bier. Gavel und Schaffartzik stehen hinter der Bühne und scherzen.
Die Spieler verfolgen in dieser Saisonphase die Berichterstattung nur selten. Coach Katzurin kennt die Mechanismen der Presse gut und ignoriert sie, wo er kann. Er ist freundlich, weil er freundlich sein muss.
Die Coaches erörtern ihre Rotation. Sie diskutieren die Matchups, wer gegen wen, defensiv, offensiv. Sie diskutieren ihr Arsenal an Spielzügenund beschließen Variationen. Sie passen das Team dem Gegner an und antizipieren dann die möglichen Anpassungen des Gegners. Bamberg und Berlin sind amorphe Formen. Und Videos, immer wieder Videos. Die Coaches sehen Videos des letzten Spiels und extrapolieren das Gesehene in die Zukunft. Spiel zwei, Spiel drei. Von Spiel vier zu sprechen verbietet der Aberglaube.
Ich gerate an die Grenzen meines Spielverständnisses, und selbst Konsti kann mir das Wenn und Dann und Aber und Vielleicht der Überlegungen nicht mehr völlig plausibel machen. Es ist zu wenig Zeit. Ich bemerke, dass auch ich meist nur die Dinge beschreibe, die ich beschreiben kann, weil ich sie kenne. Ich muss mir eingestehen, dass mir für den Rest oft die Worte fehlen. Es kommt mir vor, als säßen die Coaches im Büro und spielten eine komplexe Partie Schach. Die Spieluhr tickt. Ich sitze daneben und kann nur das Schwarzweiß der Spielfiguren beschreiben.
Bis zum nächsten Spiel ist gerade genug Zeit für ein paar Stunden Schlaf und einen halben Nachmittag mit den Kindern. Einen halben Nachmittag Tiefschlaf. Ein langes Telefonat. Zeit ist in diesen Tagen so knapp bemessen, dass es sich anfühlt, als wäre die ganze Serie ein Tennisspiel mit drei Gewinnsätzen. In gleißender Sonne. Wir tragen Flip-Flops. Ich bin geblendet.
Seltsam: In der Kabine wird in diesen Tagen viel gelacht. Schaffartzik und Rochestie sind so zerstritten wie Ernie und Bert. Von ihrem Zerwürfnis ahnen sie nichts. Die Mannschaft wirkt mehr denn je wie eine Einheit. Als habe jeder Spieler seine Rolle und ihre Bedeutung für die Mannschaft begriffen. Heiko und Taylor werfen sich bei Auswechslungen oft Nonsens an den Kopf und gestikulieren, als würden sie erbost Kommandos geben. »Lollipop, Lollipop«, sagt Schaffartzik bei seiner Auswechslung und zeigt Richtung Goldsberry oder Roberts. »Lollilollilollipop.«
»Blablabla«, erwidert Rochestie und guckt fachmännisch.
Vor dem Training sitzen die beiden in der Ecke und machen Witze. »Meine Wohnung ist eine verfickte Sauna«, sagt Rochestie. »Ich dusche,ich setze
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