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Gentlemen, wir leben am Abgrund

Gentlemen, wir leben am Abgrund

Titel: Gentlemen, wir leben am Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pletzinger
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ausgerechnet Julius Jenkins die Stille und seine eigene Verschwiegenheit. Wie wir alle hat er nicht damit gerechnet, jetzt hier zu sein und am Ende dieser wilden Saison noch eine Chance auf die Meisterschaft zu haben. In Bamberg. Mit Berlin. »Playoffs!«, ruft Julius. »Finals! We’re here!«
    Rochestie schubst Jenkins, wie sich Spieler schubsen, um sich zu anzustacheln. »I’m hyped!«, sagt er und schubst Miro, Miro schubst Tadija, Tadija schubst Staiger. Rochestie wiederholt immer wieder sein Mantra der Stunde: »I’m hyped! I’m hyped! I’m hyped!« Yassin legt seinen Arm um Schaffartzik, McElroy spuckt in die Ecke des Gangs, Femerlings Gesicht nimmt wie auf Kommando die gewohnt konzentrierte Blässe an.
    Die Spieler stehen wie Gladiatoren in den Katakomben eines Kolosseums, sie rasseln mit den Ketten und erwarten einen Löwen. Trainer und Manager sehen zu. Ich sehe zu. Ich sollte fotografieren, denke ich, aber meine Kamera liegt im Bus oder in der Kabine. Konsti wirkt nervös. Er sortiert seine Papiere und starrt in sein Telefon. Bobby scheint regelrecht in seinen Ritualen und Gebeten gefangen, seine Linke schlägt ein Kreuz, die Rechte hangelt sich seine Gebetsketten entlang.

    »Eine Minute«, ruft Konsti, und die Spieler formen einen Kreis. Schultze in ihrer Mitte geht von einem zum anderen, langsam erst, dann beginnt er zu tanzen und toben wie ein Derwisch, die Stimmen werden lauter und lauter, dann gehen die Fäuste zusammen.
    »Finals, Baby!«, brüllt Sven. »We know what we gotta do!«
    Wir wissen, was zu tun ist, wir atmen ein, wir atmen aus. Wir atmen ein. Die schwere Stahltür öffnet sich. Die Mannschaft tritt hinaus in die Bamberger Halle.
    Coach Katzurin richtet seine Krawatte.
    »Wer jetzt nicht motiviert ist«, sagt er, während sein Team in der Halle verschwindet. »Wer jetzt nicht spielen will und sein Bestes gibt, der ist nicht für den Sport gemacht. Der ist kein Basketballspieler.«
    Dann betreten auch wir die Arena.
    Die Kulisse muss für den neutralen Zuschauer beeindruckend sein. Die Halle trägt Rot. Rote Perücken, rote Schminke, rote Teufelshörner. Ihre Trommeln sind nicht einfach laut, sie donnern direkt in die Gedanken. Die Pyrotechnik kracht. Bedrohlich kreisen dunkelrote Strahler über das Parkett. Der Hallensprecher ist ganz in Weiß gekleidet, er kaut sein Kaugummi wie ein Stier sein Gras. Die zweihundert Berliner Fans sind weder zu sehen noch zu hören. Wenn die Kulisse das einzig Entscheidende wäre, hätte Berlin heute keine Chance. Ich suche nach dem Trommlermädchen in der Menge, ich befürchte das Schlimmste, ohne genau zu wissen, was schlimmer sein könnte als die letzte Niederlage hier. In der Menge sind keine Gesichter auszumachen, es scheint mehr Wut als Freude zu herrschen.
    Die Berliner Bank ist umzingelt von Rot. Die Journalisten verstopfen ihre Ohren mit Wachswatte. Und dann kündigt der Hallensprecher die Nationalhymne an, und Gotthilf Fischer wird in den Mittelkreis geführt. Er dirigiert eine alte Aufnahme der deutschen Nationalhymne, und die Halle singt mit. Ein alter Mann steht im Mittelkreis einer Turnhalle und dirigiert einen atonalen Chaos-Chor. Hinter der Berliner Bank beginnen zwei Männer mit fransigen wilhelminischen Schnurrbärten zu pöbeln. Tommy solle sich hinsetzen, man könne nichts sehen, sie hätten schließlich bezahlt. Setz dich hin! Plötzlich ist die Bedrohlichkeit der Inszenierung verflogen.

    Und dann wird das Spiel den großen Erwartungen nicht gerecht, nicht sofort jedenfalls. Es ist ein zögerliches und vorsichtiges Abtasten. Coach Katzurin sucht die funktionierende Fünf, er wechselt schnell und spielt schon im ersten Viertel mit zehn Spielern. Er ist ein Coach, der Taschenspielertricks beherrscht (später wird man ihn dafür kritisieren). Beide Mannschaften scheinen sich zu prüfen. Erst als kurz vor Ende des ersten Viertels Sven gegen Casey Jacobsen verteidigt und dabei zu Boden geht, als der Schiedsrichter auf Verteidigerfoul entscheidet, glasklar für das entrüstete Bamberger Publikum und völlig unerklärlich für die Berliner, erst als der Amerikaner den unter ihm liegenden Sven anbrüllt, »Get off the fucking floor you pussy«, als die Schiedsrichter dabei nicht genau hinhören, die Spieler auf dem Feld aber sehr wohl, und als es daraufhin zu ein paar kleinen Schubsern kommt, finden Erwartung und Wirklichkeit zueinander. Die Halle erklärt Sven Schultze zur persona non grata. »Schultze raus, Schultze raus!«, skandieren

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