Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gentlemen, wir leben am Abgrund

Gentlemen, wir leben am Abgrund

Titel: Gentlemen, wir leben am Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pletzinger
Vom Netzwerk:
Morgentraining filmt. Nur zur Sicherheit. Die trainierende Mannschaft unter uns bemerkt nichts. Mithat sieht man an, dass er sich freut. Von der Tribüne sehen wir einer Mannschaft zu, die längst abgeschrieben war, »Alba-Schlaffis« und »Versager« und »Die Bocklosen«. Wir beobachten die Spieler, die von Anfang an dabei waren, und die, die während der Saison gekommen sind. Ich beobachte Marco Baldi, seine Liegestütz und seine Sit-Ups am Spielfeldrand. Ich erinnere mich an Hollis Price und Marko Marinovi ć . Coach Katzurin steht an der Mittellinie und kontrolliert seine Assistenten bei der Arbeit. Ich erinnere mich an Luka Pavi ć evi ć im Schnee vor dem Bamberger Hotel, Agassis Buch in der Hand.

    Mithat liebt wichtige Spiele, er stand immer gern auf der großen Bühne. Diese Mannschaft hat er gebaut und umgebaut. Er lacht, und seine Augen blitzen. »Bleib mal hier sitzen«, sagt er und steht auf. »Ich habe eine richtig gute Idee!«
    Ich bleibe sitzen und beobachte, wie Mithat von der Westtribüne herunterklettert, langsam um das Spielfeld herumspaziert und mit den Händen fuchtelt. Dann verschwindet er aus meinem Blickfeld. Ich beobachte weiter, wie Julius Jenkins in vollem Lauf durch die Zone schneidet und um zwei, drei Blöcke herumfliegt, wie er dabei immer weiß, wo sein Verteidiger steht. Er weiß, wo er den Ball bekommen wird und positioniert sich schon in der Luft. Er wirft und trifft. Ich beobachte Taylor Rochesties sichere Pässe, obwohl Schaffartzik ihn auch im Training beißt. Ich höre Sven schreien. Ich notiere die winzigen Mauseschritte Miro Raduljicas, die nicht zu seinem riesigen Körper zu passen scheinen. Wenn er rennt, winkelt er die Arme an wie ein kleines Tier mit großen Augen, und im Sprung zieht er bisweilen die Beine an wie ein kleiner Junge beim Sprung vom Einmeterbrett.
    Die Mannschaft arbeitet ernsthaft an der Eröffnung über Miro gegen Tibor, später dann Yassin gegen Hines. Coach Katzurin wird plötzlich laut, ich kann ihn sogar oben auf der Tribüne verstehen. »Wenn wir den Ball auf die Großen bringen können«, ruft er, »dann bringt den Ball verdammt nochmal auf die Großen.« Coach Katzurins Kommandos, seine Überbetonungen und Wiederholungen. Eine Playoff-Serie besteht aus Wiederholungen und Variationen. Der Gegner ist derselbe, die Spieler sind dieselben, die Spielsysteme bleiben bei all den Variationen im Kern gleich. Was sich ändert: Coach Katzurin nennt Casey Jacobsen mittlerweile nur noch Casey, obwohl er ihn niemals persönlich getroffen hat. Aus Pleiß ist »that Tibor-Kid« geworden.
    Als das Training fast vorbei ist, und die Bamberger schon um die Ecke blicken, bekommt Miro unter dem Korb den Ball und dunkt ihn krachend. Ich höre das metallene Abklappen des Korbs, ich höre das Gebrüll der Spieler. »In your sweet face, Tibor!«, schreit jemand. »In your fucking beautiful face!« Coach Katzurin stellt sich in den Mittelkreis der Bamberger Arena und hebt die Faust, die Mannschaft kommt zusammen. »Ich weiß nicht, warum wir immer so miserabel anfangen. Eröffnet ein Spiel einfach mal mit 24:6. Nicht umgekehrt. Guys, noch zwei Spiele. Zwei Siege.«
    Und als Femerling den Schlachtruf erledigt hat, laut und klar, wie ein guter Kapitän den Schlachtruf in fremder Halle erledigen muss, und als die Spieler ihre mitgebrachten Berliner Wasserflaschen leeren und ihre Sachen packen, sehen wir den Schriftzug. Die Spieler stehen auf dem Spielfeld in der Bamberger Halle und sehen auf zur Gegentribüne. Tommy und Mithat stehen an der Seitenlinie und lachen. Baldi lacht. Femerling lacht. Bryce lacht. McElroy lächelt (er wird selten laut). Tadija legt seinen Arm um Staigers Schultern. Auf die schmutzigroten Blöcke E links bis D links, in das Klatschpappenmeer, in die Vorbereitungen für den Bamberger Höllenlärm, haben Mithat und Tommy vier riesige Buchstaben auf die Bamberger Tribüne geschrieben.

    Am Abend ist die Halle voll. Heute sind fünfhundert Fans aus Berlin gekommen, sie stehen sofort nach Öffnung in der Halle und halten ihre Banner in die Luft. Nach dem Ausgleich in Berlin sind sie zuversichtlich, fast euphorisch. Bamberg hat sich verwundbar gezeigt. Die Gästekabine ist heute aufgeräumt und frisch gewischt.
    Ich rede kurz mit Sven Schultzes Vater, der heute eigentlich zu Hause bleiben wollte, weil ihm die Entscheidung zwischen Familien- und Heimatverbundenheit schwerfällt. Rudi Schultze ist ein jovialer und grundsympathischer Mann, der die Welt nicht

Weitere Kostenlose Bücher