Gentlemen, wir leben am Abgrund
Bahnen für 45 Minuten Konzentration (falls es eine Verlängerung geben sollte). Später mache ich meinen Rundgang durch die Halle, vielleicht zum letzten Mal. Ich trinke meinen Espresso mit Samii Selant. Als ich zurückkomme, schwören sich die Bamberger in den Katakomben auf das Spiel ein, Pleiß stößt mit dem Kopf fast an die Neonröhren (sie scheinen zu beten, aber ich bin mir nicht sicher).
Konsti schreibt mir eine Textnachricht aus der Kabine der Coaches: Guter Regen. Wäscht Bamberger Druck/Dreck weg. Momentaner Zustand: Ahnung, dass alles auch ganz anders aussehen kann & Hoffnung, dass Bobby heute nichts prognostiziert.
»Wisst ihr, wie viele Spiele ihr in diesem Jahr gespielt habt?« Coach Katzurin hat seine technischen Anweisungen beendet, aber seine Faust bleibt unten. Er hat noch etwas zu sagen, er entlässt die Mannschaft noch nicht in die Halle. Der Coach wartet und wartet und sieht seine Spieler an. Ich sitze zwischen Schultze und Dragi ć evi ć und beobachte die wippenden Beine, die knackenden Finger, den immer wieder neu gerichteten Krawattenknoten. Die Luft steht in der Kabine, die Zeit steht still.
Ihre Gesichter. Wir sind seit fast zehn Monaten gemeinsam unterwegs. Baldi hat die Arme verschränkt, er wirkt in sich gekehrter denn je. Nach dem Spiel in Hagen hat er von der Angst gesprochen, die das Gewinnen unmöglich machte. Die erste Playoff-Runde gegen Oldenburg war noch bestimmt von dem Druck, nicht verlieren zu dürfen, Erwartungen nicht zu enttäuschen und als Team nicht schmählich zu scheitern. Die Frankfurt-Serie oszillierte zwischen Bedenken und Euphorie. Jetzt ist die Angst verflogen, der Druck stammt nicht mehr aus der Angst vor Niederlagen, er ist nach vorn gerichtet.
Die Fehler im ersten Spiel gegen Bamberg waren so deutlich sichtbar, dass sie einfach korrigierbar scheinen. Die Spieler wissen, dass sie Bamberg schlagen können. In ihren Gesichtern liegt eine Vorfreude, die ich in diesem Jahr selten gesehen habe.
»Wie müde seid ihr?«, fragt der Coach, und die Spieler ermessen die Schwere ihrer Körper. »Wie oft habt ihr in diesem Jahr trainiert? Wie viele Tage wart ihr unterwegs? Wie viele Spiele habt ihr gespielt?« Bryce Taylor hält seine Hände gefaltet, Femerling denkt an die Wochen undMonate in den Schlingen und Gewichten des Rehazentrums, McElroy denkt an Zuhause. Denke ich.
Der Coach lässt seine eigenen Fragen in der Kabine verhallen. Die Augenringe der Spieler sind Antwort genug. Die Tapeverbände und Eispakete und betenden Hände.
»Es ist ganz einfach«, sagt Katzurin. »Wir müssen drei Spiele gewinnen, dann sind wir Champion.« Der Coach stellt sich in die Mitte der Kabine und sieht sich um. »It’s that simple.« Dann hebt er die Faust, und die Spieler springen auf.
One
two
three
Alba!
Und sofort liegen wir 0:8 hinten. Der Halle stockt der Atem. Berlin trifft nicht, Bamberg trifft. Coach Katzurin wechselt wieder schnell, aber findet nicht das richtige Team. Die taktischen Varianten funktionieren alle nicht, Bamberg spielt die Ganzfeldverteidigung auch ohne ihren verletzten Strippenzieher John Goldsberry geduldig aus. Raduljica vergibt einen freien Dunk. Coach Katzurin nimmt eine Auszeit und redet auf die Mannschaft ein. Die Spieler hören aufmerksam zu. Der Bamberger Coach Chris Fleming sagt kein einziges Wort zu seiner Mannschaft. Er schweigt und beobachtet die Berliner.
Beim Stand von 6:21 nimmt der Coach noch eine Auszeit, und Marco Baldi beugt sich zu mir. »Pass auf«, sagt er, »wir gewinnen dieses Spiel«, und ich bin mir nicht sicher, ob seine Worte beschwörend oder selbstvergewissernd gemeint sind. Vielleicht sind sie der letzte Strohhalm. »Schreib dir auf, dass ich das gesagt habe«, sagt Baldi. »Notier dir das!«
Seine Worte sind Seherei. Im zweiten Viertel greifen die taktischen Ideen der Coaches plötzlich, und Alba legt einen 14:0-Run hin. Die Halle wacht auf und wird direkt unfreundlich. Bei einem fragwürdigen Pfiff der Schiedsrichter fliegen Klatschpappen auf das Feld. Schaffartzik trifft einen Dreier, und zwei Angriffe später läuft der Ball perfekt durch die Berliner Reihen, zwei, drei, vier Stationen, landet wieder bei ihm,und Heiko wirft und trifft erneut. Schaffartzik-Geschrei. Dann zweimal Jenkins. Zur Halbzeit steht es nur noch 49:50, alles ist offen.
Im dritten Viertel winkt Coach Katzurin Patrick Femerling zu sich und wechselt ihn nach 108 Tagen Wartezeit für
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