Gentlemen, wir leben am Abgrund
mehr versteht. Er ist dann doch gekommen. »Der bleibt nicht weg«, hat Sven gegrinst, denn die Stechert-Arena ist seine Halle. Und sein Sohn ist das Gesicht der Berliner Mannschaft. Obwohl er lacht, ahnt man, dass Rudi Schultze die »Schultze-raus«-Rufe zusetzen. Wir verabschieden uns, wir wünschen uns ein gutes Spiel (wir sehen uns am nächsten Wochenende in Berlin).
Als ich in die Kabine gehen will, fällt mir ein kleiner Mann mit grau-weißem Haar auf. Rotes T-Shirt, weißer Kragen, rotes Gesicht. Er steht über dem Spielertunnel und stiert mich an. Seine Augen glimmen rot. Er sucht meinen Blick und weicht nicht aus. Ich blicke verwundert zurück. »Kennen wir uns?«, frage ich.
»Haben Sie diesen Artikel geschrieben?«, fragt der kleine Mann, und seine Mundwinkel zittern dabei ein wenig.
»Welchen Artikel?«
Ich habe für die FAZ einen Artikel über die beeindruckende und einschüchternde Bamberger Kulisse geschrieben. Der Artikel ist gestern erschienen, ich habe darin die Gästekabine beschrieben. Ich habe aus meinen Notizen zitiert, winzig und unfassbar verlottert, habe ich erwähnt. Der Mann sieht nicht so aus, als habe ihm der Artikel gefallen.
Diesmal ist die Kabine sauber, und die Nationalhymne wird von einer Frau gesungen, die singen kann, der gelbe Block und die roten Blöcke sind sich kurz einig in der Melodie. Nach einer Schweigeminute für eine verstorbene Bamberger Basketballlegende wirkt der folgende Lärm umso schmerzhafter. Julius Jenkins hält sich die Ohren zu.
Die Mannschaft erfüllt die Bitte des Coaches und eröffnet das Spiel mit 2:7. Coach Katzurin wechselt langsamer als noch in den ersten beiden Spielen (vielleicht hat er die Kritik an seiner Rotation doch nicht ignorieren können). Dann aber fangen sich die Bamberger und finden mithilfe ihrer Halle zurück ins Spiel, 13:9 und 25:18.
Heute ist Boris Schmidt der Schiedsrichter, ein erfahrener, aber profil-neurotisch scheinender Mann, der sich sonst nicht scheut, ganze Hallen gegen sich aufzubringen. An seiner Seite der junge Toni Rodriguez und Oliver Krause. In bedeutenden Spielen ist es für die Auswärtsmannschaft wichtig, dass die Schiedsrichter das Rückgrat haben, der Heimhalle zu widersprechen. Ein guter Schiedsrichter trennt das Spiel aufdem Parkett vom Spiel auf den Tribünen. Diesen Referees traut man diese Leistung zu.
Aber heute neigt sich das Spiel auf dem Parkett in die Bamberger Richtung. Trotz aller Bemühungen, trotz aller Versuche und trotz aller Motivation ist die Mannschaft nicht in der Lage, das Spiel an sich zu reißen. Es ist einer dieser Tage, an denen sich die Wirklichkeit grundlegend vom eigenen Anspruch und der eigenen Hoffnung unterscheidet. Die Zeit rennt uns davon, das Spiel ist nicht greifbar. Berlin spielt nicht schlecht, aber in den entscheidenden Momenten ist Bamberg immer besser und präziser. Die Zuschauer finden ins Spiel und lassen die Schiedsrichter ungenau werden, als seien auch sie vom Schwung des Bamberger Spiels mitgenommen. Der Rhythmus der Heimmannschaft ist der Rhythmus des Spiels, der Bamberger Tonfall bestimmt seine Melodie.
»No foul, du Fotze!«, sagt der Bamberger Aufbau Karsten Tadda Richtung Schiedsrichter, als er McElroy beim Wurf foult, aber nichts passiert.
Zur Halbzeit führt Bamberg mit 53:35.
»Schämen Sie sich!« In der Halbzeit steht der kleine Mann mit den wütend glimmenden Augen wieder am Spielfeldrand. Während des Spiels ist er hinter den Presseplätzen aufgetaucht. Nach dem Spiel wird er am Spielfeldrand auf mich warten. Ob ich dieser »Mensch« sei, der dieses Buch schreibe. Seine Hände zeichnen bei »Mensch« zwei Anführungszeichen in die Luft. Der Mann spuckt mir das Wort »Buch« entgegen, als sei ihm eine Fliege in den Mund geflogen. Sein Unterkiefer zittert leicht. Der Mann sieht aus, als könne er sich gerade eben noch beherrschen. In seinen Augen toben die Gedanken, sein Mund kann sich gar nicht schnell genug bewegen, um sie herauszuschleudern.
»Ja«, sage ich. »Warum?«
»Ja«, sagt er, er wisse, dass die Kabine verlottert sei, das wisse er. Das wisse jeder. Aber wenn ich Anstand hätte, dann würde mein Anstand mir verbieten, über so was zu schreiben. Anstand und Moral. Kabinen! Wen interessieren schon Kabinen! Bananenschalen! Ich hätte doch keine Beweise für so was! Mein Buch würde niemanden interessieren!Unterste Schublade! Peinlich! Stimmungsmache! Feuer ins Öl! Schindluder an der Region Oberfranken! Wenn das jeder machen würde! Das
Weitere Kostenlose Bücher