Gentlemen, wir leben am Abgrund
lesen die ja auch in Frankfurt! Oder in München! Ich sei peinlich. Ein peinlicher »Mensch«. Ich könne nicht verlieren, so sei das nämlich, und ob ich wisse, was ich damit angerichtet habe. In Berlin seien die Kabinen doch auch nicht besser. Schindluder! »Feuer ins Öl!«, schreit er mir ins Gesicht. Ein Ordner kommt näher und beobachtet uns. »Öl ins Feuer«, sagt er.
Ich versuche, das Gespräch abzubrechen, denn die Kabinentür ist längst zu und ich verpasse Coach Katzurins Ansprache. Aber der Mann fühlt sich ernsthaft angegriffen. Er hat eine diffuse Wut im Blick, er hat noch viel zu sagen. Ob er mir seine E-Mail-Adresse geben könne, frage ich, ob wir diese Unterhaltung in aller Ruhe fortführen könnten? Das Spiel fange gleich wieder an (E-Mail geben lassen und niemals schreiben). Ja. Der wütende Mann gibt mir tatsächlich seine Karte. Er ist cholerisch wie Rumpelstilzchen, aber seinen Namen gibt er preis. Paul Neumann. Versicherungsvertreter bei einer großen Versicherung, sein Büro liegt in einem Vorort von Bamberg.
Im dritten Viertel bemühen sich die Berliner, den Druck zu erhöhen. Heiko Schaffartzik geht gegen seinen alten Freund Anton Gavel wieder und wieder in die Zone. Er wird gefoult und punktet von der Freiwurflinie. Die Berliner halten die Intensität so hoch wie möglich. Sven Schultze kommt ins Spiel und versucht, das Spiel mit Härte zu verändern. Aber nichts hilft. Bamberg behält die Kontrolle und baut den Vorsprung sogar aus, Svens Entschlossenheit wirkt in ihrer Vergeblichkeit schon fast verzweifelt. Bamberg freut sich, ausgerechnet ihn so klar scheitern zu sehen, und als im dritten Viertel die Schultze-raus-Rufe überhandnehmen, schäme ich mich fast, ohne recht zu wissen, für wen eigentlich. »Hui«, sagt eine Frankfurter Journalistin neben mir, »so was ist unschön.« Ich sehe, dass Svens Vater aufgestanden ist und die Bamberger anfeuert. Lauter! lauter! sagen seine Gesten. Rudi Schultze steht in seiner Halle und muss über seine Halle spotten, Rudi Schultzes Herz ist bei seinem Sohn.
Das Spiel endet klar und deutlich mit 90:74. Bamberg war die eindeutig bessere Mannschaft. Konzentrierter, rhythmischer, konkreter. In den entscheidenden Momenten haben sie den Takt vorgegeben. Und auch die Halle hat wieder ihr Möglichstes getan, um Berlin zu verunsichern »Excellent Basketball-Setup«, hätte Luka Pavi ć evi ć gesagt. Ich bemerke, dass ich der verpassten Gelegenheit nachtrauere. Ich hatte auf einen Sieg gehofft, ich hatte ein Triumphgefühl beschreiben wollen, und muss jetzt meine Enttäuschungen aufzählen.
Plötzlich steht wieder Paul Neumann vor mir. Ich solle mich schämen, wiederholt er und erklärt mir dann unvermittelt, wie sehr er Sven Schultze hasse. Was ist der Grund, Paul Neumann? »Weil er foult!«, schreit Paul Neumann. »Weil er nichts kann!« Er gerät wieder in Rage. Der weißhaarige Paul Neumann hasst einen 33-Jährigen, weil der, wie Paul Neumann erkannt hat, nichts kann. Wie der sich aufführe! »Der kommt hierher und führt sich auf!«, schreit er, und seine Stimme schlägt ein ungelenkes Rad dabei. »Der kann nur foulen!« Und hätte ich Schultzes graue Haare gesehen? Rentenalter! Ein Rentner! »Weg mit dem Rentner!«, sagt der weißhaarige Versicherungsvertreter Paul Neumann, seine Stimme dabei wütend und traurig zugleich.
Vielleicht, notiere ich später im Bus, vielleicht ist Paul Neumann ein exemplarischer Fan. Paul Neumann weiß, dass die Kabine verlottert ist, aber er will es nicht lesen. Paul Neumann weiß, dass Fouls zum Spiel gehören, aber er will nicht, dass die andere Mannschaft foult. Vor allem nicht Sven Schultze. Ich betrachte die Visitenkarte des Versicherungsvertreters. Paul Neumann versteht keinen Spaß. Er will siegen. Er sehnt sich nach dem Gefühl, gesiegt zu haben. Er wird wütend, wenn jemand dieses Gefühl gefährdet, in das er so viel Hoffnung setzt. Leute wie Paul Neumann machen Auswärtssiege in Bamberg zur Seltenheit. Er hat klar umrissene Feindbilder. Paul Neumann ist ein Symbol für das Irrationale und Impulsive des Fandaseins.
Ich denke das, während wir über die nächtliche Autobahn zurück nach Berlin fahren. Es ist spät, die Spieler schlafen. Ich beobachte meine eigene Enttäuschung im Fenster des Busses, ich bemühe mich um Kontrolle und Beherrschung, das Rumpelstilzchen in mir bleibt verborgen (der innere Paul Neumann). Vielleicht sind wir uns ähnlicher, als ich gedacht habe. Vielleicht bin ich auch ein wenig
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