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Gentlemen, wir leben am Abgrund

Gentlemen, wir leben am Abgrund

Titel: Gentlemen, wir leben am Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pletzinger
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wärmen soll. Darüber das Trikot, darüber den Aufwärmanzug. Dann setzt er sich vor seinen Spind, wartet und hört Musik, er scheint in die Leere seines Kopfes zu starren. Kurz bevor der Coach den Raum betritt, um seine Ansprache zu halten, nimmt er eine Dose Red Bull aus dem Kühlschrank.
    Sven Schultze zieht sich immer ein schwarzes T-Shirt seiner letztenMannschaft an, Carife Ferrara, und geht sofort in die Halle, um sein komplexes Kraft- und Dehnprogramm durchzuführen. Jenkins lässt sich sein Trikot schon vor dem Spiel ins Hotel bringen, tauscht in der Kabine nur die Badeschlappen gegen die Schuhe und geht dann direkt aufs Spielfeld, um sich warm zu werfen. Taylor Rochestie hört Musik und singt dazu, manchmal spricht er mit sich selbst, manchmal tanzt er. Staiger läuft nackt durch die Kabine und isst, was er finden kann, heute Bananen und Energieriegel. Ein paar Spieler putzen sich vor Spielbeginn die Zähne und schmieren sich Gel in die Haare. Es riecht nach Deodorant. Heiko Schaffartzik setzt sich allein auf die Tribüne, um in Ruhe ein Buch zu lesen und die Halle zu spüren.

    Mein Ritual ist ein doppelter Espresso. Ich plaudere kurz mit der Garderobiere, wie immer, und lasse ihr meine Jacke da. Ich esse irgendetwas, die Fritteusen und Popcornmaschinen laufen bereits, Brezelverkäufer machen sich bereit, im VIP – Bereich werden die Proseccoflaschen entkorkt. Überall in der Halle gehen die Monitore an. Ich wechsle ein paar Worte mit Max Drübeck, dem Kartenkontrolleur. Jedes Mal frage ich ihn, wie das Spiel ausgehen wird. Max arbeitet auch bei Eishockeyspielen und Shakira-Konzerten an der Tür zu Block 201, aber er sieht selten zu. Jedes Mal öffnet Max mir seine Tür, jedes Mal wünscht er mir einen schönen Nachmittag und gute Unterhaltung. Niemals würde Drübeck den Spielausgang tippen, sagt er, denn Tipps brächten Unglück. »Wer Voraussagen macht, fordert das Schicksal heraus«, sagt er, »und das Schicksal sollte man nicht herausfordern.« Dann öffnet er die Tür und verneigt sich leicht. »Einen schönen Nachmittag«, sagt er, »und gute Unterhaltung!«
    Jedes Mal bin ich überrascht von der Größe der Halle. Alba hat vor 20 Jahren in der Sömmeringhalle mit 2500 Zuschauern begonnen. Man gewann den Kora ć -Cup vor 10.000 Zuschauern in der Deutschlandhalle. Vor 15 Jahren wechselte man in die Max-Schmeling-Halle mit 8900 Zuschauern. Hier wurde Alba acht Mal deutscher Meister. Vor drei Jahren schließlich zog das Team in die O2 World am Ostbahnhof.
    Ich bin eigentlich Nostalgiker, mir machen kleine Hallen großen Spaß, die Nähe zu den Zuschauern, der Lärm, die Stimmung in der Enge. Kleine Hallen erinnern mich an meine Kindheit. In der Schmeling-Halle hatte Alba an der eigenen Legende gestrickt, der Verein hat sich als Sieger etabliert. Die Schmeling-Halle war ideal bemessen für Basketball, wie man es in Deutschland kannte, sie war nach der Kölnarena die zweitgrößte Halle der Liga, sie war oft ausverkauft. Alba und die Schmeling-Halle waren im Bewusstsein der Stadt verankert.
    Um die Jahrtausendwende hatte sich die europäische Basketballwelt grundlegend verändert. Das spielerische und organisatorische Niveau an der Spitze war gestiegen und die Bedingungen waren professioneller geworden. Die Quote für ausländische Spieler war in Deutschland 2001 gefallen, und athletische Amerikaner und billige Osteuropäer hatten die Bundesliga geflutet. Das bedeutete: Eine komplette Generation junger deutscher Spieler spielte nicht, weil fertig ausgebildete Spieler aus dem Ausland leichter zu bekommen waren. Das Spiel wurde spektakulärer, wilder und unorganisierter. Es gab Bundesligaspiele, bei denen kein einziger deutscher Spieler auf dem Feld stand. Oft wurden nach einer Saison komplette Kader ausgetauscht, die Liga funktionierte als Durchlauferhitzer für die finanzstärkeren Ligen in Griechenland, Spanien und Russland.
    Als 2005 eine Pflichtquote für deutsche Spieler eingeführt wurde, waren diese plötzlich selten und teuer. Aber Alba verfügte über gute Nachwuchsarbeit und gewann seit jeher seine Titel mit deutschen Spielern im Kader, darunter Mithat Demirel und Marko Peši ć .
    Der amerikanische Investor Anschutz Entertainment hatte die Halle 2008 in die Bahnbrache neben dem Ostbahnhof gebaut, Telefónica Deutschland hatte die Namensrechte gekauft. Man hatte Alba einen langfristigen Nutzungsvertrag angeboten, weil Sportteams regelmäßige, routinierte und kostengünstige Bespielung der

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