Gentlemen, wir leben am Abgrund
schon vor der Halle, Yassin Idbihi und Staiger schütteln ihr die Hand, ein paar High Fives, ihre Augen strahlen. Ich weiß nicht, was sie beruflich macht und was sie an Basketball und an Alba Berlin so fasziniert. Ich nehme mir vor, mit ihr zu sprechen.
Alba hat die meisten Zuschauer in Europa, im Schnitt über 10.000, und gerade erst ist ein neuer Fanclub gegründet worden, es gibt jetzt Block 212 und den alten Fanclub Alba-Tross, aber von der italienischen Begeisterung im Inferno Bianconero zu Caserta und der Bamberger Wut in der Frankenhölle sind die Berliner noch ein paar Meter entfernt. Diese Saison hat sie auf die Probe gestellt, denke ich, vielleicht werden sie mit wachsender Spannung lauter. Heute stehen ein paar Fans in Gelb in einiger Entfernung, sie scheinen sich nicht näher heranzutrauen.
Wir betreten die Halle: Derrick Allen im weißen Polohemd, Yassin Idbihi in kurzen Hosen, Tadija Dragi ć evi ć in Jeans und T-Shirt, Staiger in verbeulter Jogginghose, Bryce Taylor, McElroy und zuletzt Jenkins. Sie haben die Kleiderordnung gelockert, seit Coach Pavi ć evi ć nicht mehr da ist, aber der Kopfhörer ist die Universaluniform der Basketballprofis. Sie wollen allein sein, sie wollen sich konzentrieren.
In den Katakomben: nackte Betonwände, Sicherheitsschleusen und Milchglastüren. Links die Umkleide der Trainer, hinter der Stahltür rechts die Kabine der Heimmannschaft. An jeder Tür stehen Securityleute, der Große mit der Glatze, der kleine ältere Herr, die füllige Blonde, unser Empfangskomitee der letzten Monate.
Das Alba-Büro steht im Gang und begrüßt die Spieler: Ticketmann Samii Selant, die Merchandisingdame Julia Pätzolt, der Pressesprecher Justus Strauven, die Balljungen. Alle lächeln, alle tragen gelbe Alba-Brillen aus Pappe. »Playoff-Brillen«, sagt Strauven. Allen sieht man den besonderen Tag an. »Tachchen!«, sagt der Mannschaftsarzt am Eingang der Kabine, weil er immer am Eingang der Kabine steht und »Tachchen!« sagt, wenn die Mannschaft kommt. »Tachchen!«, und heute dreht seine Stimme eine aufgeregte Pirouette dabei.
Als die Spieler kommen, ist Patrick Femerling längst da. Er hat ein stationäres Fahrrad in die Mitte der Kabine gestellt und tritt in die Pedale, der Schweiß tropft auf das riesige Alba-Logo auf dem Fußboden. Der Kapitän ist seit fast drei Monaten verletzt, Achillessehnenanriss, und seit drei Monaten arbeitet er an seiner Rückkehr in die Mannschaft. Er will,dass die anderen sehen, dass er zurückkommen wird, also fährt er vor dem ersten Playoff-Spiel in der Kabine Fahrrad bis zur Erschöpfung. Der riesige Fernseher läuft, gerade wird Borussia Dortmund Meister und der Bildschirm flimmert gelb. Die Spieler betreten die Kabine und begrüßen ihren kämpfenden Kapitän, Konsti hängt seine vorbereiteten Poster an die Wand, Tommy legt die gelben Heimtrikots säuberlich gefaltet vor die Spinde der Spieler. Femerling kämpft mit den letzten Metern seines Trainingsprogramms, dann reißt er die Arme in die Luft und jubelt. Im Fernseher leert Dede ein riesiges Bierglas über den Kopf von Jürgen Klopp. Alles ist gelb, und Femerling steht auf und humpelt mit bandagiertem Knöchel zur Physiotherapie. »Man muss den Schmerz fühlen, man muss die Grenze finden, an der es nicht mehr weitergeht«, sagt er, »bald bin ich zurück.«
Die Vorbereitung auf ein Spiel ist für jeden Basketballer ein hundertfach vollzogenes Ritual. Die Alba-Profis spielen Basketball, seit sie acht, neun, zehn Jahre alt sind. Jeder von ihnen hat Tausende Trainingseinheiten absolviert, dazu 500 Spiele. Mindestens. Femerling schätzt, dass er in seiner Karriere 1300 Ligaspiele gemacht hat, dazu 221 Länderspiele. Macht 1521 Spiele, in denen ein Ritual entsteht und sich einschleift. Im Spiel und im Training trägt Femerling seine kniehohen Socken, auf die er von einem Hersteller in Barcelona seinen Namen sticken lässt. Am Spieltag rasiert er sich nie, »das merkt bei mir sowieso keiner«, grinst er. Er würde sich niemals vor dem Spiel die Fingernägel schneiden, geschweige denn die Fußnägel. »Das mache ich seit Griechenland nicht mehr.«
Immanuel McElroy lässt sich zwei Dosen Red Bull in den Kühlschrank stellen, auf das dritte Gitter von oben. Er betritt die Kabine, zieht sich bis auf seine Radlerhose aus und lässt sich vom Physio erst die Knöchel tapen, dann den Rücken mit Wärmesalbe einreiben und massieren. Dann legt er den Neoprengurt an, der seinen Rücken stabilisieren und
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