Gentlemen, wir leben am Abgrund
Leonardo DiCaprio. Michael Ballack. Déjà-vu. In allen Hotels, in denen wir in dieser Bundesligasaison gewohnt haben, hängen Bilder von örtlichen Kunsthandwerkern. Sie kosten immer zwischen 75 und 225 Euro. Die Spieler beziehen die gleichen Zimmer wie in der letzten Woche, Bobby setzt sich wieder in die Sauna, Yassin und Heiko spielen Klavier in der Lobby.
Beim Nachmittagstraining begrüßt uns das Oldenburger Hallenteam sehr freundlich und kocht Kaffee für die Busfahrer und mich. Coach Katzurin redet nicht lange. »Wenn wir gewinnen, können wir bis ins Finale kommen. Wenn wir verlieren, dann wird es hässlich.«
Die Mannschaft trainiert eine Stunde lang konzentriert. Kruni ć und sein Team betreten die Halle nach uns. Zwar reden Baynes und Raduljica nicht miteinander, und Stevi ć und Yassin gehen aneinander vorbei, aber Jenkins, Allen und Paulding begrüßen sich mit einer herzlichen Umarmung. Sie teilen sich den Agenten und werden im Sommer wieder gemeinsam trainieren, ganz egal wie dieses Spiel und diese Serie ausgehen.
Obwohl in den Zeitungen von Zoff die Rede war und Kruni ć s »Affentanz« auf den Social-Media-Seiten und in Internetforen für Diskussionen gesorgt hat, klopfen sich Baldi und Kruni ć kurz auf die Schultern. Ich bin überrascht, dass am Vorabend des Spiels niemand so nervös zu sein scheint, wie ich es mir in einer solchen Situation vorgestellt habe (so nervös, wie ich es bin). Niemand hält die ergreifende Rede, mit der ich gerechnet habe.
Mir fällt auf, dass ich aus meiner Zuschauerperspektive eine klare Dramaturgie gewohnt bin. Ich erwarte das Scheitern des einen und die Heldentat des anderen, ich erwarte eine große Rede und große Entschlüsse, aber die Spieler essen Pasta und Hühnchen wie an jedem Abend, wie bei jedem Auswärtsspiel. Tommy beschwert sich über die Suppe, und der Kellner muss dreimal neues Tabasco bringen. Ich binZuspitzungen gewöhnt, Höhepunkte und pointierte Nacherzählungen, aber die Spieler und Trainer machen einfach ihre Arbeit. Die Geschichten werden später erzählt, von Nostalgikern wie mir. Zu viele Sportfilme gesehen, notiere ich später, zu viele Heldengeschichten gelesen. Suppe ohne Salz.
Nach dem Abendessen trinken Marco Baldi und ich Bier auf der Terrasse. Die Spieler sitzen in der Abendsonne. Schaffartzik. Staiger. Tadija. Rochestie. Im Konferenzsaal Westerstede tagt der Alpenverein Oldenburg hinter Glas. Wir fragen uns, was der Alpenverein Oldenburg wohl zu besprechen hat. Der höchste Berg der Stadt ist laut Kellner 23 Meter hoch. Bobby spaziert im Bademantel zum Pool, Coach Katzurin sucht im Obstkorb nach Äpfeln. Der Alpenverein Oldenburg macht eine Zigarettenpause.
»Wir unterhalten uns über Versicherungsfragen und Anseilratschläge«, sagt ein Präsidiumsmitglied auf die Frage nach dem Sinn und Zweck. »Die Reisen unternehmen wir allein.«
Die Sonne geht unter. Die Spieler verschwinden auf ihren Zimmern, Marco Baldi bestellt noch zwei Bier. »Da unterscheiden wir uns vom Oldenburger Alpenverein«, sagt er, »Jugos und Amerikaner und Deutsche reisen zusammen. Ohne Seil. Ohne Versicherung. Das ist ein anderer Geist.«
Am nächsten Morgen hat Mithat Demirel Geburtstag, also spazieren wir nach dem Shootaround durch Oldenburg. Wir setzen uns in den Garten eines türkischen Restaurants. Mithat bestellt Schafskäse und Zwiebeln, zur Feier des Tages trinken wir ein Alster, die Oldenburger Glocken schlagen Mittag. Wenn Mithat Demirel spricht, muss man gut aufpassen. Deutsch ist seine Muttersprache, aber er springt zwischen den Sprachen: Er bestellt auf Türkisch, telefoniert auf Englisch, er berlinert. Er wechselt anstandslos und ohne mit der Wimper zu zucken zwischen Ernst und Ironie, zwischen Gesagtem und Gemeintem, zwischen Wendung und Witz. Er ist ein Schelm im Anzug. Er kann Interviews führen, ohne eine Sekunde lang nachzudenken, er beherrscht die Standardsätze, er hat jahrelang geübt.
»Richtig gut!«, sagte er entweder, wenn er »richtig gut« meint oder»hundsmiserabel«, die Betonung gipfelt auf der ersten Silbe. »Ja!«, sagt er, wenn er »ja« meint oder »nein!«.
»Dazu kann ich nichts sagen«, sagt er, wenn das Gespräch beendet ist oder wenn er weiter gefragt werden will.
Mithat ist heute in fazitärer Stimmung. An seinem 33. Geburtstag muss man Bilanz ziehen. Kann er mittlerweile seine Krawatte binden? »Natürlich!«
Wäre er als Spieler in einer solchen Situation wie heute nervös gewesen? »Auf keinen Fall!
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