Gentlemen, wir leben am Abgrund
das erste Viertel endet 15:15.
Man spürt jetzt deutlich, dass der Einsatz seit letzter Woche gestiegen ist. Oldenburg kann heute Abend ausscheiden, für Berlin geht es um das Verhindern einer Katastrophe. Die Oldenburger haben begriffen, wie sie Alba schlagen können. Die Berliner wollen diese Hoffnung ersticken.
In Momenten der Entscheidung sind Basketballspiele aus Glas. Gute Spieler sehen kristallklar, was passiert. Für die Zuschauer ist das ähnlich. Die Zeit scheint langsamer abzulaufen. Jede Bewegung, jede Angriffs- oder Verteidigungssituation ist sofort lesbar und interpretierbar. Jeder Augenblick ist gewichtig.
»Das Spiel besteht aus Augenblicken«, hatte Luka Pavi ć evi ć immer gesagt, »und die Augenblicke werden zu Situationen, die Situationen reihen sich zu Sequenzen, Sequenzen bilden das Spiel. Aus Spielen formt sich eine Saison. Aus Saisons werden Karrieren. Wie Perlen auf einer Schnur. Unsere Karrieren sind unser Leben.«
In entscheidenden Spielen weiß man um das Gewicht des Augenblicks.
Die Halle reagiert darauf. Jeder Angriff eine extreme Gefühlslage. Jede Spielsituation wird von den Zuschauern extrapoliert. Die Oldenburger sehen das Ende klar vor sich, den eigenen Jubel und wie man noch ein Bier bestellt. Die Berliner Fans zweifeln. Ein nachdrücklicher Dunk von Baynes sagt ihnen, dass Oldenburg gewinnt. Dann aber geht Julius Jenkins zwischen zwei Verteidigern durch, ein großer und unverhoffter Schritt in die sich schließende Lücke zwischen Gill und McNaughton, er ist mit zwei Schritten in guter Position und wirft. Sein Treffer bestätigt unsere Ahnung, dass Alba siegen wird.
Als Zuschauer liest man das Spiel und jeder Angriff schreibt ein neues Kapitel. Man sieht, man versteht und fühlt in Wellen, man leidet, man ahnt, man fürchtet, man hofft. Die Abergläubischen, die Mystiker und die Religiösen kennen das Ergebnis. Die besten Spieler sehen alle Möglichkeiten. In knappen Spielen ist unser Wissen ein Hin und Her. Die Zeit ist ein straff gespanntes Seil, das Spiel ein unentschiedener Tanz zwischen den Möglichkeiten.
Die Sekunden vor der Halbzeit gehören Berlin. Coach Katzurin hat viel gewechselt, um die Foulbelastung klein zu halten, aber er hat dabei den Takt und den Rhythmus seiner Spieler riskiert. Rochestie hat eine Auswechslung mit säuerlichem Lächeln quittiert, Tadija hat geflucht. Alba führt mit nur einem Punkt, aber in den Sekunden vor der Halbzeitpause funktionieren zwei angesagte Spielzüge tadellos, zweimal zwei Punkte.
Und dann klaut Heiko Schaffartzik mit vier Sekunden auf der Uhr den Ball an der Mittellinie, dribbelt ein-, zweimal. In vollem Lauf nimmt er den Ball auf und geht in einen Zweierkontakt, rechts, links, hoch, er lässt den Ball in hohem Bogen fliegen. Sein Flug scheint Sekunden zu dauern, die Ziffern der Shot Clock laufen herunter, bei 0:0 bleiben sie stehen. Es zählt die Sekunde des Abwurfs. Der Ball segelt über das halbe Feld und fällt in den Korb. Die Sirene vermischt sich mit dem enttäuschten Ärger der Zuschauer, Miro Raduljica ballt die Faust, Marco Baldi rennt Richtung Bank. Die Spieler fallen kurz über Heiko her, lassen dann ab und sprinten in die Kabine. »Ejakulatio praecox«, sagt der Notarzt hinter mir und hat vielleicht recht, »das Ding ist noch nicht vorbei.« Glückliche Gesichter in der Kabine, Adrenalin und Serotonin. Julius Jenkins mahnt zur Ruhe, und auch Coach Katzurin braucht einige Sekunden, ehe er die richtige Tonlage findet. Konstis Hände zittern über seinen Papieren.
In der zweiten Halbzeit kommt Oldenburg kurz vor Ende des dritten Viertels durch einen Dreier von Bogdanovi ć auf zwei Punkte heran. Alba kann im nächsten Angriff nicht punkten, und Eddie Gill bekommt den Ball. Sein direkter Gegenspieler ist Heiko Schaffartzik, ein passabler Verteidiger. Gill dribbelt langsam, er sieht auf die Uhr. Heiko kennt Gills Stärke, Coach Katzurin hat häufig genug darauf hingewiesen. Gill wird rechts täuschen und links gehen wollen. Also orientieren sich die Verteidiger weg von ihren Gegenspielern und hin zu Gill, sie wollen Heiko zu Hilfe kommen. Dabei entstehen Lücken. Als Gill dann plötzlich geht, kommt Derrick Allen zu Hilfe, weil er helfen muss, und Gill sieht das und weiß das und passt zum allein gelassenen Ricky Paulding. Paulding steigt hoch und wirft und trifft für drei. Eine perfekte Durchführung des Spielzugs. 58:57 für Oldenburg.
»Jetzt geht es an die Substanz«, sagt Marco Baldi und reibt sich die
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