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Gentlemen, wir leben am Abgrund

Gentlemen, wir leben am Abgrund

Titel: Gentlemen, wir leben am Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pletzinger
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Hände, er fährt sich über das Gesicht und trinkt einen Schluck Wasser. Letztes Viertel. Zumindest vermute ich, dass er das sagt, denn in der Halle kann man vor sirrender Spannung nichts mehr verstehen. Man liest Lippen: »Merkst du wie die Konzentration verschwindet?« Die Mannschaften kommen aus der Viertelpause und das Spielwird langsamer. Die flüssigen Übergänge zwischen Verteidigung und Angriff, Transitions, sind jetzt fast völlig aus dem Spiel verschwunden. Die Mannschaften stehen sich gegenüber wie zwei Kämpfer, jeder Angriff ist jetzt säuberlich vom anderen getrennt. Oldenburg schlägt, Berlin nimmt den Treffer, aber fällt nicht. Dann schlägt Berlin und Oldenburg hebt die Fäuste zur Deckung. Die Treffer werden schwerer.
    Wie schon in der letzten Woche wirft Tadija Dragi ć evi ć dreimal aus der Dreierdistanz, und diesmal trifft er dreimal. 73:66. Er zeigt zur Bank, als habe er die Welt gerettet. Das Adrenalin leuchtet in seinen Augen, und im nächsten Angriff verliert er vor Begeisterung die Übersicht und Konzentration. Er begeht sein fünftes Foul und muss raus.
    Baldi greift sich fassungslos an den Kopf, als McElroy bei einem Korbleger umgemäht wird und aus fast zwei Meter Höhe ungebremst auf seinem lädierten Rücken fällt. Er bleibt liegen. McElroy bleibt sonst niemals liegen. Er windet sich, steht auf, trifft einen Freiwurf, spielt weiter, 77:72. Noch zwei Minuten.
    Rochestie hat einen schlechten Tag. Wieder geht Gill an ihm vorbei und Yassin Idbihi fällt ihn, viel zu offensichtlich und viel zu hart. Unsportliches Foul. Gill trifft die Freiwürfe, der Ball bleibt bei Oldenburg. Lukauskis trifft. 76:77. Jenkins trifft. 76:79. Und dann gibt Luka Bogdanovi ć Mithat recht. »Der hat Eier«, hat Demirel gesagt. Der Ball läuft über Gill und vier Stationen, die Alba-Verteidigung rotiert, der Ball landet bei Bogdanovi ć und wieder ist es Derrick Allen, der den Bruchteil einer Sekunde zu spät bei seinem Mann ist. Als der Close-Out kommt, ist Bogdanovi ć schon in der Luft, aus dem Nullwinkel wirft er über Derricks ausgestreckte Finger, er ist zu groß und zu eiskalt, er trifft. Ausgleich, 79:79. Bogdanovi ć schweigt, die Halle schreit.
    Rochestie weiß, dass Helden jetzt trotzdem werfen und trotzdem treffen, er erinnert sich an seinen entscheidenden Wurf vor sechs Tagen, er geht über links und wirft. Er trifft die Brettkante, er verliert den Ball, er weiß, dass er heute kein Held ist. Noch 20 Sekunden.
    Auszeit.

    Oldenburg hat den Ball, alle rechnen mit einem letzten Wurf, aber wieder greift Coach Katzurin ein, weil er eingreifen kann. Er lässt Bogdanovi ć sofort foulen, und Bogdanovi ć trifft nur einen von zwei Freiwürfen.
    80:79. Auszeit. Jetzt kann Alba mit einem letzten Wurf gewinnen.
    Im Fernsehen wird man später die Diskussion vor der Alba-Bank hören. Bobby sagt voraus, dass die Oldenburger die Defensive auf Zonenverteidigung umstellen werden, aber Bobby ist gewöhnlich der schlechteste Weissager der Welt. Rochestie sagt: Zone. Aber Coach Katzurin überlegt ein paar unerwartete Sekunden und sagt dann einen Spielzug gegen Manndeckung an. Seine Entscheidung. Die Mannschaft kommt aus der Auszeit: der beste Distanzschütze Jenkins, unter dem Korb Yassin Idbihi, Derrick Allen, Taylor Rochestie, McElroy.
    Und Oldenburg verteidigt Zone.
    Der Ball kommt zu Mac, alle Passwege sind dicht. Die Uhr tickt. Mac ist der beste Verteidiger der Liga, aber ein Streaky Shooter. In Situationen wie dieser will man ihn nicht isolieren. Aber er hat den Ball und wird ihn nicht los. Er kann kaum noch laufen, er hat 30 Minuten gespielt, und nach dem Sturz vor wenigen Minuten ist sein Rücken ein einziger knotiger Schmerz. Mac täuscht, kann seinen Gegenspieler nicht schlagen und wirft dann unentschlossen und bedrängt aus der Mitteldistanz. Er trifft nicht, aber Yassin Idbihi angelt sich den Ball auf Höhe der Freiwurflinie.
    Jeder Basketballspieler kennt diese Augenblicke. Ich erinnere mich an diese Situation, als wäre es jetzt. Ich bekam den Ball etwa auf Höhe der Freiwurflinie, leicht links von Yassins Position in Oldenburg. Mein Spiel war Brandt Hagen gegen Bayer Leverkusen, es ging um eine Westdeutsche Meisterschaft in den frühen Neunzigern. Die Halle war eine Schulturnhalle in Hagen. Ich wusste nicht, wie viel Zeit noch auf der Uhr war. Viel war nicht übrig, ich musste werfen, schnell, ich musste jetzt schnell werfen. Ich hatte den letzten Wurf, und wenn ich traf, gewannen wir. Ich wusste,

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