Gentlemen, wir leben am Abgrund
dass Marta Lewandowski im Publikum saß und zusah, das schönste Mädchen der damaligen Welt. Ich sprang so hoch wie möglich und leicht zur Seite, ich wusste, dass niemand hintermir war und der Gegenspieler vor mir konnte mich auch nicht erreichen, niemals. Ich sah den Korb und wollte werfen, aber in genau dem Moment, wo ich den Arm durchdrücken musste und die Hand abknicken, sah ich direkt unter dem Korb und in viel besserer Position meinen Mitspieler, sein rotes Trikot.
Er sah mich an, ich sah seine Handinnenflächen, ich sah seinen aufgerissenen Mund. Ich wusste: Wenn ich ihn anpasse, wird er treffen, er ist unser bester Spieler. Ich wusste das alles, aber ich wusste nicht, wie viel Zeit noch war. Ich wusste, dass Marta Lewandowski in dieser Sekunde eine Entscheidung traf. Ich sah den Korb und meinen Mitspieler, und während ich warf, stellte ich mir vor, wie er werfen würde, wie er treffen würde. Ich streckte den Arm, ich knickte das Handgelenk, ich überlegte.
Im Grunde ist, was in einem solchen Augenblick passiert, keine Überlegung, es ist vielmehr ein Oszillieren der Gewissheiten. Im Grunde wusste ich sicher, dass er treffen würde. Aber ich warf. Ich und nicht er. Und weil ich in Gedanken eine andere Möglichkeit sah, eine andere Welt als meine, eine andere Geschichte als meine eigene, wurde mein Wurf zu dem bitteren Indikativ des Tages: Ich traf nicht. Wir verloren das Spiel.
»Auf der Uhr war genug Zeit«, sagte Marta Lewandowski. »Hast du so was nicht im Gefühl?« Und tagelang, jahrelang bleiben Konjunktive: hätte ich gepasst, hätten wir gewonnen, wäre ich der entscheidende Mann gewesen, Marta hätte hätte hätte (und so weiter).
Und jetzt angelt sich Yassin Idbihi den Ball. Wie viel Zeit ist noch?, denkt er, wie viel Zeit ist? Er drückt sich ab, er hat den Ball kurz in beiden Händen, er legt ihn auf rechts, wie viel Zeit? Er springt. In dieser Sekunde sieht er Julius Jenkins, direkt unter dem Korb, die Hände bereit, die Augen aufgerissen, den Mund, wiiiide open. Julius würde treffen, wenn er den Ball dort unten bekäme, denkt Yassin, aber er denkt auch: Throw that shit up quick! In dieser entscheidenden Kleinstelsekunde denkt er plötzlich englisch. Er wirft. Er trifft nicht. Oldenburg gewinnt. 80:79.
Später in der Kabine sitzt Rochestie auf der Holzbank und wendet diesen einen Gedanken im Kopf hin und her: Was gewesen wäre, wenn.Woran es liegt. Warum er so miserabel wirft. Tadija hört gar nicht mehr auf zu fluchen, Salven von Flüchen gehen auf uns nieder, und Mac kann kaum noch gerade stehen vor Schmerzen. Er lehnt vornübergebeugt an der Bank, Eis auf dem geprellten Rücken. Yassin sitzt in der Ecke und schüttelt den Kopf. Er versucht, Worte zu finden für seine Entscheidung. Die Serie ist ausgeglichen, zwei Siege Oldenburg, zwei Siege Berlin.
Heute wird nicht getanzt und auch der Pizzaservice liefert nicht. Nach dem Spiel hat McDonald’s bereits geschlossen, Burger King ebenso. Die Spieler werfen sich auf die Sitze, niemand spricht. Wir fahren an den winkenden Fans vorbei in die Nacht. Nach den Spielen telefonieren die Manager normalerweise mit den Journalisten, die in Berlin geblieben sind und trotzdem einen Artikel schreiben müssen. Aber heute drückt Mithat die Anrufe einfach weg. Keine Interviews. »Diese Mannschaft kann froh sein, dass sie mich nur drei Monate als Trainer hatte«, sagt Coach Katzurin und packt seinen DVD – Spieler aus. Bis zum nächsten Spiel bleiben fünf Tage. »Jeder israelische Point Guard hätte dieses Spiel gewonnen. Im Grunde hätte jeder andere Point Guard dieses Spiel gewonnen.«
Tommy hat im Namen der Mannschaft eine Torte besorgt, rechteckig und schneeweiß steht sie vor Mithat. Er schneidet seinen Geburtstagskuchen an. »Bedient euch«, sagt Mithat, den Mund voll Sahne und Zuckerguss, »schmeckt richtig gut!«
An einer Tankstelle auf dem Weg nach Berlin sitzen lediglich fünf Fernfahrer um eine kalte Bockwurstmaschine und trinken Bier, eine unfassbare Tristesse. Tadija kauft Powerade, Yassin ein Sixpack Bier. Auf der Busfahrt beschleicht einen manchmal das irrationale Gefühl, man könne in der Zeit zurückgehen, um die Dinge zu ändern. Man könne Würfe noch einmal nehmen und treffen. Man könne passen. Wir finden ein geöffnetes McDonald’s und kaufen ein. Zu jedem Menü gibt es einen Luftballon mit der Aufschrift »Hier beginnt der Spaß!«.
Im Morgengrauen dann die Erkentnis, dass nichts mehr hilft. Als wir im Sonnenaufgang auf
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