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Gentlemen, wir leben am Abgrund

Gentlemen, wir leben am Abgrund

Titel: Gentlemen, wir leben am Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pletzinger
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von Al Pacino als Tony Montana. Sein Lachen klang nervös, vielleicht bildete ich mir das aber nur ein. Ich setzte die neuen Kopfhörer auf und schaltete meine Musik an, das Gerede verschwand ( Radio Cure von Wilco). Wir erreichten den Wald. Es regnete jetzt stärker. Über Europa zogen Unwetter auf.

    Die Krise hatte mit dem Tod von Gerd-Ulrich »Doc« Schmidt begonnen. Im Sommer hatte der langjährige Mannschaftsarzt die Spieler noch untersucht und vermessen, im Oktober war er gestorben. Schmidt hatte Alba Berlin 1989 mitgegründet und aus Ludwigsburg den ehemaligen Spieler Marco Baldi nach Berlin geholt. Am Tag der Arbeit 1990 hatte Marco Baldi seinen Job als Manager von Alba Berlin angetreten, »from scratch, mit einem Schuhkarton als Kasse, ohne Belege, ohne Sponsoren, ohne alles«. Wenn Baldi von dieser Zeit sprach, wurde er nostalgisch. Der Doc, Sportstättendirektor Peter Schließer und Baldi hatten Spieler angesprochen, Wohnungen gesucht und um den Trainer Faruk Kulenovi ć ein Team zusammengestellt. Baldi hatte anfangs sein Gehalt nicht bekommen, weil schlichtweg das Geld fehlte. Also hatte er zusätzlich jeden Tag von fünf bis neun Uhr morgens ein Lichtenberger Backkombinat in freier Marktwirtschaft unterrichtet.
    »Und abends war Basketball mit den Jungs«, erinnerte sich Baldi.
    Sie hatten den Geschäftsmann Dieter Hauert als Präsident ins Boot geholt, dann war das Recyclingunternehmen Alba als Hauptsponsor eingestiegen. Der Doc hatte einen weißen Bürstenhaarschnitt getragen und den Alba-Firmengründer Franz Josef Schweitzer beim Friseur von ihrer Vision eines erfolgreichen Basketballvereins überzeugt.
    Die Geschichte von Alba Berlin wird immer als Geschichte einer Familie erzählt. Wenn man mit Baldi sprach, schien er sich gern zu erinnern. Hauert, Schließer und Baldi waren auch nach zwanzig Jahren immer noch dabei, Schweitzer hatte seine Begeisterung an seine Söhne Axel und Eric vererbt. Im Zentrum hatte immer der Doc gestanden. In den frühen Jahren des Vereins und später in den erfolgreichen Jahren hatte Schmidt am Spielfeldrand gesessen. Er hatte serbische Finger eingerenkt, amerikanische Nasen gerichtet und deutsche Platzwunden genäht. Im letzten Jahr kam er nur noch selten zu den Heimspielen. Eine Krebserkrankung hatte ihm jahrelang zugesetzt, der ehemals passionierte HB – Raucher war geschwächt und im Herbst, am 24. Oktober, war er gestorben. Der Verein trauerte, für die Alba-Familie gab es nur einen Doc.
    Für die aktuelle Mannschaft war die Beerdigung ein Pflichttermin, sie hatten in schwarzer Kleidung zu erscheinen. Nur wenige Spieler hatten Schmidt gut gekannt. Viele dachten an Hi-Un Park, wenn sie »Doc« hörten. Profis leben in einer schnellen Welt. Nach dem Morgentraining hatte sich das Team in Pkws auf den Weg Richtung Friedhof gemacht. Professor Mika war gefahren und Luka Pavi ć evi ć hatte einen Vortrag über Professionalität gehalten.
    »Ein gutes Team lässt seine Spieler nicht in Privatwagen zu einer Beerdigung fahren. Man bestellt einen Bus, man kommt gemeinsam an, man fährt gemeinsam wieder weg. Alle tragen Schwarz. Warum macht der Club das nicht? Um das Geld für den Bus zu sparen? Du wirst sehen: Ein Spieler findet den Weg nicht, ein anderer hat eine pinke Mütze auf, weil er noch nie bei einer Beerdigung war, der Dritte kommt im T-Shirt und ist am nächsten Tag krank. Diese Dinge summieren sich,eins kommt zum anderen. Erst geht ein Spiel verloren. Dann ein zweites. Wir müssen uns gegen solche Sachen schützen.«
    Luka Pavi ć evi ć hielt einen Monolog zu den Schwachstellen seiner Mannschaft. »Auch Siege können lügen«, sagte er. »Wir brauchen bessere Point Guards. Hollis Price ist nicht fit, und Marinovi ć musste noch nie verteidigen, also kann er es einfach nicht. Einer muss gehen. Wenn Taylor Rochestie heute frei wird, dann muss Marinovi ć gehen.« Der Coach hatte seine Hände ausgebreitet, die Handflächen nach innen, eine Beschwerdegeste, die ich aus der letzten Saison von ihm kannte. Während der ersten Saisonwochen schien sie verschwunden zu sein, jetzt war sie zurück. Pavi ć evi ć schien in den letzten Wochen blasser und dünnhäutiger geworden zu sein.
    Die Krise deutete sich allmählich an. Die erste Niederlage in Ulm hatte den Coach in ihrer Unnötigkeit aufgeregt. Vor dem Spiel gegen den TBB Trier hatte er im Training einen Freiwurf werfen wollen, eine Bewegung, die er seit Jahrzehnten immer wieder und immer gleich ausführte, aber diesmal

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