Gentlemen, wir leben am Abgrund
privacy«, nannte Jenkins seine Dr.-Dre-Beats, sie waren für ihn gleichzeitig Statussymbol und Stoppschild. Eine Tarnkappe. Ein Wundermittel. Eine Art Zauberstab, Abrakadabra. Niemand würde ihn ansprechen, niemand würde ihn um Autogramme bitten. »Mit Kopfhörern bin ich unsichtbar«, sagte er. »Wenn ich sie trage, bin ich nicht hier. Ich bin da, wo ich sein will.«
Ein plausibler Gedanke: Wir waren morgens im Berliner Nebel gestartet, jetzt waren wir in Neapel und saßen in der süditalienischen Sonne. Wenn man ständig mit einer Männergruppe reist, wenn man sich ständig im öffentlichen Raum aufhält, in Sporthallen, Hotels, Restaurants, Flugzeugen und Bussen, braucht man eine tragbare Privatsphäre. Vor den Spielen hörten fast alle Spieler Musik, um sich emotional zu steuern, um sich zu beruhigen oder aufzuputschen. Jenkins trug Kopfhörer, um allein zu sein. Ich entschied, mir Kopfhörer zu kaufen, um die Welt der Spieler besser zu begreifen, aber ich fand am Neapolitaner Flughafen nur Espressostände und Buchläden. Ich kaufte mir Andre Agassis Autobiografie Open und fing an zu lesen. Wir warteten. Femerling sang Que sera, sera. Pavi ć evi ć sah müde und entkräftet aus, er sah seiner Zeit beim Verschwinden zu.
Süditalien im Winter. Wir hatten im Hotel Vanvitelli am Rand von Caserta eingecheckt. Das Hotel lag zwischen Supermärkten, Tomatenfabriken und Autohäusern. Man hörte das Hupen der Autos von der Autobahn nach Neapel. Es gab giftgrün beleuchtete Tümpel und antike Statuetten aus Plastik. In der gigantischen Lobby hatte man einen Weihnachtsbaum aufgestellt. Der Marmor war falsch und die Kronleuchter im Speisesaal monströs. Man rechnete ständig mit einem Auftritt einer drittklassigen Opernsängerin. Es gab faustgroßen Mozzarella mit Gemüsezwiebeln. In der Hotelbar saß ständig eine Gruppe plappernder italienischer Pharmakologen in schmalen Anzügen. »A terrible hotel set-up« , hatte Pavi ć evi ć gesagt, »extremely terrible« , aber er hatte vor der Atmosphäre in der Halle gewarnt, vor der Lautstärke der Ultras und der Schnelligkeit des Gegners Pepsi Caserta (»Die rennen nur, wenn sie angreifen. Sie haben flinke Finger und klauen Bälle, dann rennen sie nach vorne, aber am Rückweg haben mindestens drei Spieler kein Interesse.«). Er hatte ausdrücklich auf den Flügelspieler Jumaine Jones hingewiesen, der jeden Wurf nahm, frei oder nicht. »Er feuert, feuert, feuert.« Wir hatten anderthalb Tage im Dröhnen der Autobahn auf das Spiel heute Abend gewartet (in einem Elektrosupermarkt hatte ich tatsächlich einen Kopfhörer gefunden). Jetzt saßen wir wieder in einem Bus.
Der Palamaggiò lag irgendwo hinter den Hügeln über der Stadt. Die Ultras nannten die Halle Inferno Bianconero, die schwarz-weiße Hölle. Das Spiel sollte um 20.30 Uhr stattfinden, es dämmerte längst. Der Bus fuhr eine Weile durch die Peripherie Casertas, wir kurvten zwischen leer stehenden Häusern und Bauruinen entlang, an den Wänden schimmelige Wahlplakate und rostige Hinweisschilder. Gelegentlich bogen wir um eine Straßenecke und wurden von plötzlicher Schönheit überrascht. Einmal lag ein riesiges Barockschloss vor uns, von dem niemand gehört oder gewusst hatte. »Das Schloss hat 1217 Zimmer, nur Versailles hat mehr. Der Architekt hieß Vanvitelli«, sagte die Dolmetscherin, dieuns begleitete. »Ihr Hotel trägt seinen Namen.« Die Plätze wurden zu Straßen, die Straßen zu Gassen, wir rollten über Kopfsteinpflaster, an den Rückseiten der Häuser hing Wäsche im Nieselregen. Dann verließ der Bus die Stadt durch eine schmale Einbahnstraße, links und rechts schlecht verputzte Mauern, fleckiger Beton, über allem das gelbe Licht italienischer Straßenlaternen (das Licht des Südens).
Die Spieler erzählten sich Legenden, jemand machte einen vorsichtigen Mafiawitz. Ein anderer hatte recherchiert, dass die Mafia in dieser Gegend hauptsächlich im Umkreis der Städte aktiv war, in den Provinzen und Landkreisen. Die Anhänger von Juventus Caserta seien fanatisch, sagte ein Dritter, erst letzte Saison hätten sie nach einigen Niederlagen ein Training im Palamaggiò gestürmt und gedroht, die Spieler und ihre Familien zu ermorden. Wir sprachen von Exekutionen, Sabotage und Korruption, der Camorra und den Casalesi. Die Straßen waren menschenleer. Mir fiel auf, wie dunkel das Licht auf den Palmblättern und Bauruinen lag. »Every day above ground is a good day«, sagte Pavi ć evi ć mit der Stimme
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