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Gentlemen, wir leben am Abgrund

Gentlemen, wir leben am Abgrund

Titel: Gentlemen, wir leben am Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pletzinger
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zwischen ein paar Pinien und Zypressen, und niemand wusste, was darin auf uns wartete. Ein rätselhafter, aber gut beleuchteter Ort. Wir fuhren die schmale Straße hinab zur Halle, der Regen hatte aufgehört, es war ein schwüler und feuchter Tag mitten im Dezember ( Fix You von Coldplay).
    In der schwarz-weißen Hölle liefen die Klimaanlagen, die Zuschauer trugen dicke Jacken. Über den Presseplätzen hingen die Banner der Geschichte, der Pokalsieg 1988 und die Meisterschaft 1991, die Spielerlegenden Oscar Schmidt (#18) und Fernando Gentile (#5).
    Schmidt hatte in den Neunzigern als der vielleicht beste Nichtamerikaner der Sportart gegolten. Sie hatten ihn Mão Santa genannt, die heilige Hand. Er war ein reiner Scorer gewesen, aber Verteidigung war nicht seine Sache. »Some play the piano«, hatte er gesagt, »and some have to carry it.«
    Ein älterer Herr mit blauem Filzhut und gut geschnittenem Anzug setzte sich neben mich, »Romano Piccolo«, sagte er und gab mir die rechte Hand, die linke legte er auf seine Brust. Er sei Journalist, erklärte Piccolo, und Juve Caserta sei sein Herz. Romano Piccolo hatte schneeweiße Haare, einen weißen Schnurrbart und wassergraue Augen. Es waren noch zwanzig Minuten bis Spielbeginn, die anderen Journalisten tippten oder fotografierten, also erzählte Romano Piccolo mir seine Geschichte.
    »Ich war immer in der Halle«, sagte er, »ich habe die Meisterschaft beschrieben, ich habe Oscar Schmidt gekannt. Die magische Hand.« Piccolo erzählte in italienischem Englisch von seinen Kindern und Enkeln, allesamt Flügel- und Aufbauspieler, er erzählte von Dr. J, den er gut gekannt habe, er berichtete von Berlin vor der Wende und den Maschinenpistolen der Grenzer an der Friedrichstraße.
    »Der Krieg«, seufzte er, »der Krieg.« Der schwarz-weiße Block der Caserta Ultras stand hinter uns. An diesem Dienstagabend war nur ein Drittel der 6300 Plastiksitze besetzt. Ich hätte mir die italienische Fankultur anders vorgestellt, sagte ich. Irgendwie begeisterter, aggressiver, ausverkaufter. Ich hätte mit bengalischen Feuern und Aggression gerechnet. Romano Piccolo sah mich an. »Die Halle bleibt leer«, sagte er. Er holte ein Paket Wachswatte aus der Innentasche seines Anzugs, rollte zwei Kugeln und reichte sie mir. »Die Wirtschaft ist schwach. Die Hölle ist laut.« Inferno Bianconero stand auf einem riesigen Banner quer über dem Fanblock, die schwarz-weiße Hölle.
    Eine junge Frau stellte einen Espresso vor den alten Journalisten. »Euer Coach ist einer der besten«, sagte Piccolo. »Er versteht Basketball. Er sieht die Dinge. Er weiß, was zu tun ist. Ich sage: Berlino vincera.« Er trank den Espresso vorsichtig und in winzigen Schlucken. Als Alba angekündigt wurde, nüchtern und schnell und mit schwerem Akzent, konnte ich im gellenden Pfeifen und Singen kein Wort mehr verstehen, …e che nessuno ci giudichi! stand über dem Tunnel, durch den die Spieler auf das Spielfeld und in den Lärm hineinliefen, … dass niemand über uns richte!
    Romano Piccolo hatte alles gesehen, er hatte recht. Als das Spiel begann, zog er einen Füllfederhalter aus der Tasche. Er notierte die Namen der Starting Five: Marinovi ć , Jenkins, McElroy, Femerling, Dragi ć evi ć . Dann sah er sich die Bankspieler an. »Bryce Taylor«, sagte er und lächelte. »Ich kannte seinen Vater, er spielte in der ABA , sehr guter Verteidiger, Brian Taylor kam von Princeton. Attenti al Cane. Er war bissig, er hätte nach Caserta gepasst, hier werden Bälle geklaut. Der Sohn wird auch einmal ein guter Europäer, er hat auch schon in Italien gespielt, Montegranaro.« Die schwarz-weiße Wand hinter uns pfiff sich die Seele aus dem Leib, aber Alba eröffnete das Spiel exakt nach Plan. Die Italiener liefen nicht schnell genug zurück. Piccolo schrieb mit und las das Spiel, 8:8, 8:10, 8:12, 12:18, 17:21. Julius Jenkins traf und machte 13 der ersten 21 Punkte. Piccolo wechselte ins Deutsche. »Julius Jenkins sehr gut«, sagte er.

    Im zweiten Viertel lärmten die Fans ihre Mannschaft nach vorn, sie sangen und brüllten, jemand warf ein Feuerzeug Richtung Schiedsrichter, aber traf ihn nicht. Den Berlinern fielen nicht immer die richtigen Antworten ein, die Würfe fielen seltener. Das Spiel wankte hin und her, der Vorsprung wurde allmählich kleiner, die Zuschauer pfiffen lauter, die Schiedsrichter seltener. Dann pfiffen sie gar nicht mehr, und die Italiener waren dran. Die Atmosphäre war jetzt so, wie ich sie mir

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