Gentlemen, wir leben am Abgrund
hatte der Blitz in sein Rückgrat eingeschlagen. »Shoot me up, Doc!«, hatte er vor dem Spiel gesagt und Schleicher hatte ihm sechs Spritzen in den unteren Rücken jagen müssen, zwei Lendenwirbel waren blockiert. Der Coach hatte sich einen ergonomischen Bürostuhl an den Spielfeldrand stellen lassen und das Spiel im Sitzen gewonnen. Seitdem ging er leicht gebeugt und vorsichtig. Er joggte nicht mehr, und im Training warf er nur noch selten auf den Korb, während sich seine Spieler dehnten. Obwohl seine Mannschaft gewann, war er nicht zufrieden.
Anfang November war der Coach im Training einmal explodiert, als seine Spieler miteinander sprachen. »What the fuck!«, hatte er geflucht und einen Ball durch die Halle getreten. »Ihr sollt nicht reden, ihr sollt spielen. Wollt ihr mich testen? Wollt ihr wissen, wie weit ihr gehen könnt? Ihr bekommt hier verdammt viel Geld, mehr als ein verfickter Jurist aus Harvard oder Yale. Also kommt ihr frisch rasiert zur Arbeit und sagt: Was soll ich machen, Coach? Ihr konzentriert euch! Und wenn ihr euch unterhalten wollt, dann hole ich mir jetzt am Checkpoint Charlie einen Kaffee.«
Die Stimmung in der Mannschaft schien sich kaum merklich zu ändern. Marko Marinovi ć hatte sich die häufige Kritik des Coaches zunächst mit auf dem Rücken verschränkten Händen angehört, er hatte ihm trotzig ins Gesicht gesehen. Meist war er passiv aggressiv, ab und zu hatte er hitzige Widerworte gegeben. Bei Auswechslungen hatte er sich ans andere Ende der Bank verzogen. Manchmal wirkte Luka Pavi ć evi ć wie ein strenger Lehrer, die Spieler waren Kinder, die ihn imitierten, wenn er das Klassenzimmer verließ. Als er die Unkonzentrierten bemerkte, griff Pavi ć evi ć zu den Mitteln, die er kannte. Er ließ mehr Video schauen, er hielt ausführlichere Reden, analysierte, dozierte, erklärte. Yassin Idbihi war während eines Videomeetings eingeschlafen und gerade noch rechtzeitig von Femerling geweckt worden. Einmal hatte die Mannschaft vollzählig in der Kabine gesessen und auf Pavi ć evi ć gewartet. »Wo ist der Coach?«, hatte jemand gefragt. »Der steht draußen und redet mit der Wand«.
An einem kalten Novemberfreitag war die gesamte Alba-Familie auf dem Friedhof zur Beerdigung erschienen. Große Männer in dunklen Anzügen standen auf den Stufen der Friedhofskapelle, weil innen kein Platz mehr war, Legenden und Funktionäre, Verwandte, Begleiter und Patienten des Docs. Der Journalist, den sie Made nennen, stand hinter einem Ilex und notierte sich die Namen der prominenten Gäste. Man sah gesenkte Köpfe, Sonnenbrillen und hochgeschlagene Mantelkragen. Tatsächlich war die Mannschaft nicht vollzählig zur Trauerfeier erschienen, tatsächlich hatte der Physiotherapeut leuchtend bunte Turnschuhe getragen, und tatsächlich hatten die Amerikaner nicht damit gerechnet, dass die Friedhofskapelle randvoll sein würde. Wir standen in der klirrenden Kälte, die Rede dauerte länger als vermutet. Derrick Allen und Immanuel McElroy zitterten im T-Shirt inmitten der Trauergemeinde. Als die Urne zum Grab getragen wurde, hielt Pavi ć evi ć den Kopf gesenkt, und Baldi schien ein paar Minuten nicht an Basketball zu denken, er trug echte Trauer um die Augen. Die Spieler froren und scharrten mit den Füßen. Der Trauerzug hatte sich am Grab gestaut, die Sonne war durch die Wolken gebrochen, aber wärmer war es dadurch nicht geworden.
Dann war russische Woche in Berlin. Russisches Wetter, der erste Schneeregen, die Stadt plötzlich einfarbig. Von der Oberbaumbrücke erkannteman im Schneegrau die O2 World kaum. Selbst in der Halle war es plötzlich kalt, die Spieler trugen lange Unterziehhemden und Tights. Zum Eurocup-Spiel gegen Krasnye Krylia Samara war Marko Marinovi ć noch immer im Kader. Er hatte sich einen Schnurrbart wachsen lassen und seine Mitspieler mit einem perfekt ausgesprochenen »Dobre dien, towarischtsch« in der Kabine begrüßt. Marinovi ć und Lucca Staiger hatten vor dem Training das Wurfspiel Horse gespielt, einer macht vor, der andere nach. Sie trafen unmögliche Würfe und alberten herum. Coach Pavi ć evi ć hatte ihr Spiel mit tadelndem Blick beobachtet, dann hatte er die Spieler auf die Russen vorbereitet. »Talent ist nicht genug«, hatte er gesagt und seine Spieler reihum angesehen. »Talent ist nicht genug, wenn es nicht in ein System integriert wird. Geld ist nichts, wenn es nicht für eine Einheit arbeitet.«
Mit Samara war ein anderes Basketballmodell nach Berlin
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