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Gentlemen, wir leben am Abgrund

Gentlemen, wir leben am Abgrund

Titel: Gentlemen, wir leben am Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pletzinger
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vorgestellt hatte, Romano Piccolo lächelte. Halbzeitstand 37:40. »Alter!«, sagte Mithat in der Halbzeit, »Alter, haben die Schiedsrichter uns gefickt!«
    Patrick Femerling war die Feindseligkeit und den Höllenlärm von südeuropäischen Auswärtshallen seit Jahren gewohnt. Im dritten Viertel bekam er den Ball im Low Post, den massigen Center Williams und seine Ellenbogen im Rücken. Er ließ sich leicht vornüber schieben, er ging leicht in die Knie. Williams ahnte, dass Femerling seine Position nicht halten konnte, er setzte seinen Körper ein und drückte noch ein wenig stärker. Femerling hatte auf genau diesen Übermut gewartet. Er hatteWilliams in den letzten Tagen auf Video gesehen und in der Theorie eine Lücke erkannt, die sich jetzt in diesem Augenblick ganz konkret auftat. Ich hatte ihn beobachtet, wie er diese Bewegung heute Morgen ohne Gegenspieler trainiert hatte. Femerling wartete auf das Übergewicht des Gegners, dann drehte er sich aus der leicht geduckten Haltung in dem erwarteten Sekundenbisschen um Williams herum und war am Korb, ehe sein Gegner überhaupt begriff, dass er in eine Falle geraten war. Williams’ Reflex kam zu spät, er schlug ungelenk nach dem Ball und traf Femerling am Hinterkopf oder Arm, aber Femerling hatte längst geworfen und getroffen. Er schrie, als hätte er ein Tor erzielt. Romano Piccolo tippte sich an die Schläfe, er wusste, dass nur ein Drittel des Spiels aus Körper besteht, der Rest ist Erfahrung und Gefühl. »Femerling knows«, sagt er, »Femerling is intelligent tree.«
    Nach Femerlings Aktion waren die Unsicherheiten beendet. Die Mannschaft hatte verstanden, wie die Überlegungen von Coach Pavi ć evi ć in der Realität aussahen. Die Schiedsrichter ließen das Spiel laufen, es wurde hitzig und ruppig, es war das erwartete schwere Auswärtsspiel. Aber Marinovi ć und Dragi ć evi ć fühlten sich ganz wie in Belgrad, sie kannten die Antworten auf die hier überlaut gestellten Fragen. Tadija traf zwei perfekte Dreipunktwürfe, wunderschön und glatt und zum richtigen Zeitpunkt.
    Piccolo schnalzte mit der Zunge, wie nur gut gekleidete italienische Herren mit der Zunge schnalzen können. Bryce Taylor verteidigte wie sein Vater, und Sven Schultze hielt Jumaine Jones in Schach. Nach dem 73:79 zog Luka Pavi ć evi ć seine Anzugjacke wieder an und gab jedem Spieler High Fives, das Spiel war gebrochen. Romano Piccolo nickte höflich und wünschte uns Glück, wir fuhren ins Hotel zurück. Beim Essen wurde gelacht, es gab Steak und Pommes wie immer nach gewonnenen Spielen. Professor Mika suchte den Wein aus, wir saßen noch eine Weile in der Hotellobby unter dem Weihnachtsbaum, Luka Pavi ć evi ć wirkte erleichtert. Durch ein Fenster über uns konnte man sehen, wie Julius vor dem Spiegel stand und seine Muskeln anspannte, ein Bier in der Hand. »Wir haben jetzt jede Art von Basketball besiegt«, sagte der Coach. »Teams aus Individualisten, Teams, die werfen, Teams, die verteidigen, langsame Teams, schnelle Teams, Struktur und Chaos. Alles, was jetzt kommt, wird leichter.«

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    CASERTA, 1. DEZEMBER 2010
    ES WURDE NICHT EINFACHER. Am nächsten Morgen war es Dezember und es war immer noch warm in Kampanien. Wir frühstückten italienisch, Kaffee und los, ein paar von uns ließen sich Büffelmozzarella einpacken. Wir fuhren in einem klapprigen Bus zurück nach Neapel und checkten planmäßig ein. Hin mit easyJet, zurück mit Lufthansa. Unser Gepäck wurde mitsamt unserer Jacken verladen, wir hatten fast zwei Stunden totzuschlagen. Kurz kam die Sonne heraus, wir machten Fotos vor den Palmen am Flughafen von Neapel, in Sonnenbrillen und T-Shirts. Wir warfen Münzen in ein Fernglas und suchten den Vesuv. Die Amerikaner frühstückten Burger, die Serben probierten Armbanduhren, die Deutschen kauften die Bildzeitung . Der Mozzarella kam anstandslos durch die Sicherheitskontrolle. Wir lungerten am Gate herum, zwanzig Männer in Adidas-T-Shirts. Gegen Mittag würden wir in Berlin sein, wir waren schon fast zu Hause.
    Kurz vor Abflug dann wieder Mafiawitze. Die Italiener ignorierten uns. Einer der drei Schiedsrichter des gestrigen Spiels saß am anderen Ende der Wartehalle und las Zeitung. Coach Pavi ć evi ć nickte ihm zu, bestellte sich noch einen Espresso und plante das Training für die nächsten Tage. Am Samstag würde die Mannschaft wieder nach Braunschweig müssen, dann kämen die Italiener zum Rückspiel nach Berlin, dann die Artland Dragons, dann die

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