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Gentlemen, wir leben am Abgrund

Gentlemen, wir leben am Abgrund

Titel: Gentlemen, wir leben am Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pletzinger
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Polen aus Włocławek. Die Coaches wollten keinen dieser Gegner unterschätzen. Am 18. Dezember würde man gegen den Vorjahresmeister und Favoriten Bamberg spielen. Fünf Spiele in zwei Wochen. Kurz vor Weihnachten würde Pavi ć evi ć wissen, wie gut sein Team tatsächlich ist.

    Zum Start saß ich neben dem Coach. Seine Erleichterung von gestern Abend schien über Nacht verflogen zu sein. Er schrieb und notierte, und als wir starteten, klappte er nur widerwillig den Tisch nach oben. Über den Wolken sah er nicht aus dem Fenster, sondern sprach wieder über die Point-Guard-Frage, Marko Marinovi ć und Hollis Price. Der Coach schien seine Gedanken laut zu formulieren, um sie klarer denken zu können. Um uns verstreut saßen die Spieler, aber Luka Pavi ć evi ć schien auf den Lärm der Motoren zu vertrauen. Niemand würde uns hören. Er bestellte Kaffee und arbeitete sich durch seine Themenliste: Protektion. Professionalität. Kaderplanung. Schiedsrichter. Geldübergaben, von denen er gehört hatte. Bordellbesuche, von denen erzählt wurde. Feudale Abendessen, Casinobesuche, Herrenhandtaschen voll Geld. Drohungen, Sperren, Konsequenzen.
    »Ein guter Club kümmert sich um die Schiedsrichter«, hatte der Coach vor ein paar Tagen zu Mithat gesagt, und Mithat hatte den Kopf geschüttelt. »Legal. Man schenkt den Schiedsrichtern Krawatten, man bucht gute Hotels. Man kennt die Bars, in die sie gerne gehen. Man kennt den Lieblingswein. Man ist höflich und gastfreundlich. Alle anderen machen das. Und ein paar machen noch viel mehr, und alle wissen das. Wenn ein Club diese Dinge unterlässt, entsteht eine Differenz, die am Ende entscheidend sein kann, ein Punkt, zwei Punkte. Man muss sich schützen.«
    »Ich weiß«, hatte Mithat gesagt. »Aber wir beeinflussen die Schiris nicht. Punkt.«
    Der Coach fuhr fort. Der übervolle Spielplan. Die mangelnde Konkurrenzfähigkeit der deutschen Liga. »Deutschland könnte die größte Basketballnation Europas werden«, erklärte mir Pavi ć evi ć über den Alpen, links unter uns Luzern. »In Deutschland gibt es achtzig Millionen Menschen. Ihr Deutschen seid diszipliniert, ihr arbeitet konzentriert, ihr seid groß genug. Basketball ist ein schönes Spiel, ihr habt gute Hallen und die Zuschauer haben das Geld für Tickets. Es ist alles da. Und warum seid ihr nicht die Besten?« Der Coach hatte mir diese Frage schon oft gestellt, ich kannte die Antworten: die fehlende Ausländerbeschränkung, die deutschen Spieler und fünf Jahre fehlende Spielpraxis, zu wenig nachhaltige Nachwuchsarbeit, die Größe der Liga und die vielen kleinen Vereine.

    Pavi ć evi ć sprach sich für eine Verkleinerung der Liga aus. Weniger Mannschaften bedeuteten ein höheres Niveau. Um in Europa ganz vorne mitspielen zu können, dürfe man sich nicht im Kampf gegen viele kleine und unambitionierte Clubs aufreiben. Auf Qualität und Niveau könne man sich nicht konzentrieren, wenn man ständig gegen Mannschaften spielen müsse, denen das Spielniveau nicht wichtig war, solange sie nur in der Liga blieben.
    »Warum seid ihr nicht die Besten?« Der Coach sah mich an. »Weil ihr nicht schützt, was ihr habt. Spieler müssen gut trainiert werden. Sie müssen gestärkt werden, bis sie sich alleine behaupten können. Ihr habt eine ganze Generation von deutschen Spielern dem kurzfristigen Spektakel geopfert.« Pavi ć evi ć leerte seinen Kaffee und wechselte abrupt das Thema.
    Literatur. James Elroy. Stephen King. Robert Ludlum und Verschwörungstheorien. Pavi ć evi ć seufzte und fuhr sich kurz mit der Hand über die Augen, dann fiel sein Blick auf Andre Agassis Autobiografie in meiner Tasche.
    Open.
    Der Coach nahm das Buch in die Hand und betrachtete einige Sekunden lang Agassis Gesicht. Agassi sah auf Martin Schoellers Coverfoto direkt in die Kamera, er hatte den Mund leicht geöffnet, die Studiolichter spiegelten sich in seinen Augen. Der Coach starrte Agassi an. Dann stand er auf. »Ich gehe jetzt rüber und rede mit dem Schiedsrichter. Mit diesen Leuten braucht man saubere und gute Beziehungen. Man muss sich schützen. Die Leute müssen wissen, wer du bist und wofür du stehst.« Er gab mir das Buch zurück.
    »Gutes Buch?«, fragte er.
    »Sehr gut.«
    »Leihst du es mir, wenn du fertig bist?«
    »Klar.«
    »Ich muss auf neue Gedanken kommen. Neue Gedanken sind wichtig.«
    Als wir München gegen Mittag erreichten, schneite es bereits heftig. Wir saßen im T-Shirt am Gate und sahen dem Schneetreiben hinter den

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