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Gentlemen, wir leben am Abgrund

Gentlemen, wir leben am Abgrund

Titel: Gentlemen, wir leben am Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pletzinger
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Panoramascheiben zu. Eine Verspätung wurde angekündigt, wir warteten.Der Coach sah grimmig den Lautsprecher an, als trage der die Schuld an der Verzögerung. Heute wäre der freie Tag gewesen und jede Verzögerung kürzte die Regenerationsphase der Spieler ab. Mithat bestellte den Bus ab, der uns vom Flughafen abholen sollte. Die Spieler verschoben ihre Lunchdates. Es schneite stärker, man konnte das Blinken der Schneepflüge auf dem Rollfeld nur noch erahnen. Ein Gatewechsel wurde angekündigt, der Coach ließ die Spieler zusammentrommeln, wir wechselten den Flugsteig. Unser Flugzeug stand im Schnee vor dem Panoramafenster. Wir warteten und stellten Vermutungen an, wann wir Berlin erreichen würden.
    »Fünf Uhr«, sagte einer.
    »Zehn.«
    »Übermorgen.«
    Und dann brach eine Frau mit BlackBerry und wichtigen Terminen in Tränen aus. Der Flug sei gestrichen, sagte der Lufthansa-Angestellte, der Flughafen würde bis auf Weiteres gesperrt. Über ganz Deutschland sei der Flugverkehr eingestellt, sagte er, es tue ihm leid. »Und mein Gepäck?«, schluchzte die Frau mit BlackBerry.
    »Das Gepäck kann aus logistischen Gründen jetzt nicht ausgegeben werden. Ich würde Sie bitten, am Ticketschalter Ihren Namen und Ihre Lieferadresse aufnehmen zu lassen«.
    Die Businessfrau wischte ihre Tränen weg, weil sie nicht halfen. Sie entschloss sich, laut zu werden. »Und wie soll ich jetzt nach Berlin kommen, bitte?«
    Nach und nach ahnten die Mitreisenden, dass auch ihre Reise hier enden würde. Coach Pavi ć evi ć packte seine Unterlagen zusammen, Tommy sah dem Schneetreiben zu, als ahne er, das alles noch schlimmer kommen würde.
    »Und wie, verdammt noch mal, soll ich jetzt nach Berlin kommen?«, kreischte die Frau. »Das kann doch beim besten Willen nicht Ihr Ernst sein! Das bisschen Schnee!«
    Das Bodenpersonal nickte verständig und probierte die deeskalierenden Sätze, die für solche Situationen vorgesehen waren. »Am Ticketschalter«, sagte der Mann, »können Sie sich über Alternativen informieren.«
    Die Frau mit BlackBerry verlor die Fassung. So langsam hätte manauch als Airline mal mitkriegen können, dass im Winter gelegentlich Schnee fiele. Oder als Flughafen. Oder als Landesregierung. Eine Unverschämtheit! Die Frau schnappte nach Luft.
    »Beschweren Sie sich bei Petrus«, sagte der Lufthansa-Angestellte. »Oder besser: Beschweren Sie sich bei Gott.«
    »Gott?«, stammelte die Frau. »Ich soll mich bei Gott beschweren?«
    »Wir nehmen ein Hotel«, sagte der Coach. »We need to protect the players.«
    »Wir nehmen den Zug«, sagte Mithat und winkte die Spieler zusammen wie ein Reiseleiter. »Let’s go.«
    Nahkampf im Münchner Nahverkehr. Wir stiegen ohne Gepäck und Fahrkarte in die S-Bahn Richtung Innenstadt, standen zwischen Koffern und Kisten. Verschnupfte Passagiere fragten nach Autogrammen auf den beschlagenen Scheiben. Nach einer halben Stunde Fahrt brach die erste Schlägerei aus. Ein betrunkener Franzose hatte im Gedränge einen Engländer angerülpst, der Engländer hatte den Franzosen am Ohr gezogen. Die Nerven lagen blank. Ein kleines Mädchen kotzte vor Aufregung in den Waggon, der Coach schüttelte fassungslos den Kopf.
    Die Spieler schienen überrascht von der Möglichkeit, dass die Dinge anders als planmäßig laufen konnten, Marinovi ć schien regelrecht begeistert. Am Bahnhof war die Schlange am Fahrkartenschalter unendlich lang, auf den Bahnsteigen warteten Tausende Menschen auf ihre verspäteten Züge. Ein kalter Wind pfiff durch die Halle, der Schnee wehte uns um die Ohren.
    Der ICE nach Berlin sollte in fünf Minuten abfahren, also standen wir im Schneetreiben auf dem Gleis. Die Spieler ließen die einzige Winterjacke kreisen, jeder durfte sie drei Minuten tragen, McElroy lehnte verstohlen am Bratwurststand, den Rücken am warmen Grill. Die Anzeige über uns schlug um, aus fünfzehn Minuten Verspätung wurden zwanzig, dreißig, fünfzig. Eine Stunde. Als der Zug endlich einfuhr, gab es nur noch Stehplätze. Kinder und Eltern brüllten. Der Coach stand auf dem Gleis und beobachtete, wie seine Spieler im Zug verschwanden, er beobachtete ihr Lachen, er hörte ihre Scherze.
    »Solche Dinge«, sagte er und nickte in Richtung der Menschentrauben, in Richtung der Verspätungen, Erkältungen, Übermüdungen, inRichtung der scherzenden und frierenden Spieler. Er sah zum Himmel und hinaus in den Schnee. Er wirkte auf einmal unendlich müde. »Solche Dinge werden uns das Jahr kosten«, sagte er

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