Gentlemen, wir leben am Abgrund
und stieg selbst in den Zug. »Things like that are gonna get me fired.«
Bryce Taylor saß abseits neben einem älteren Herren, er sah aus dem Fenster und hörte Musik. Er betrachtete seine Mitreisenden, er machte sich ein Bild von der Situation. Bryce war ein Mischwesen. Er war Basketballprofi und gleichzeitig das Gegenteil eines Basketballprofis. Er entsprach keinem Klischee. Er stammte aus der Autostadt Los Angeles, aber in Berlin fuhr er mit Bussen und Bahnen. Bryce war Sohn eines Basketballprofis, aber er war bei seiner Mutter aufgewachsen. Er hatte drei Schwestern und einen jüngeren Bruder. Taryn-Lily war Model, Terbrie arbeitete hinter den Kulissen der Modewelt. Bryce achtete auf seinen Stil. Er ließ seine Haare zu Dreadlocks wachsen und trug Holzfällerhemden und Chucks. Zuhause wartete ein Collie-Labrador-Mischling namens Baxter auf ihn.
Er war nahezu der einzige Schwarze an seiner High School gewesen, später war er in Oregon zur Uni gegangen. Alle hatten ihm versichert, dass er es in die NBA schaffen würde, Agenten und Scouts, aber am Tag des Drafts 2008 war dieser Traum geplatzt. Tadija Dragi ć evi ć hatte ihm einen der letzten Plätze vor der Nase weggeschnappt. Bryce hatte zwei Sommer lang versucht, über Trainingscamps und Summer-League-Einladungen den Sprung in die NBA zu schaffen. Dann hatte er sich entschieden, nach Europa zu gehen. »Um Basketball zu spielen und die Welt zu sehen«, sagte er. Bryce schien über diese Entscheidung froh zu sein.
Ein Jahr lang hatte er in der italienischen Provinz gespielt und seinen Kulturschock überwunden. In Rom hatte er sich den Neptun vom Trevi-Brunnen auf den linken Oberarm tätowieren lassen. Seit dem College war Marty Leunen sein bester Freund, der große weiße Center von Cantú. Bryce wirkte schüchtern, war aber tatsächlich interessiert. Er wollte nicht von sich selbst erzählen, er wollte sich unterhalten. In der Mannschaft gehörte er zu keiner Gruppe, sondern flottierte zwischen den Tischen hin und her. Nach dem Abendessen blieb er mit den Deutschen sitzen und alberte herum. Er hatte den Respekt der Serben, er beherrschte das Vokabular der anderen Amerikaner. Er schien sogar Professor Mika zu verstehen, er nannte ihn Miko, wie die Serben. Bryce zitierte die Codes derschwarzen Straßenkultur und sprach die Sprache weißer Hipster. In seinem Kopfhörer liefen Kid Cudi und MGMT , Pursuit of Happiness.
Bryce liebte Basketball, aber er wusste um die Fehler des amerikanischen Systems. High School, College, NBA . Nur ein winziger Bruchteil der hoffnungsvollen Basketballspieler schafft den Sprung, viele andere stehen nach dem College vor dem Nichts. Bryce kannte diese Enttäuschung, er sprach nüchtern von seinen eigenen Tränen in der Draft-Nacht 2008. Er wusste, dass viele junge Spieler das Scheitern ihres Traums vom Basketballprofi nicht verkraften. Die enttäuschten Erwartungen ihrer Familien. Für viele amerikanische Basketballspieler schien dieser Traum der einzige realistische Weg zu sein, eine oft beschworene und selten gemachte Du-kannst-es-schaffen-wenn-du-es-wirklich-willst-Laufbahn, mit der alle jungen Sportler aufwachsen. Bryce sprach dabei ohne Wut und Ideologie von Stereotypen und Rassismen. Bryce wusste, dass er nicht ewig Profisein würde, also würde er nach seinem Karriereende als Sportpsychologe arbeiten und High-School- undCollegespieler auf Alternativen vorbereiten. Europa war offen, die Welt war interessant. Bryce würde die Dinge ändern, die er für falsch hielt.
Bryce war ein Athlet. Wenn er sprang, konnte er sich mit Leichtigkeit den Kopf am Ring stoßen. Er liebte die Gefühlsexplosionen, die seine Dunks bei den Zuschauer auslösten. Auf dem Spielfeld war er ein Enthusiast, in der Trainingshalle arbeitete er akribisch an seinen Schwächen. Obwohl er oft lächelte, war er ein ernsthafter Mensch. Er hatte sich mit dem Assistenten Mauricio Parra angefreundet, der im Hintergrund für das Trainerteam arbeitete. Die beiden feilten morgens an Bryce’ Wurf und sahen sich abends Videos an. Sie schlossen Wetten auf Bryce’ Trefferquote in den nächsten Spielen ab. Parra war Halbspanier, er kochte Paella, wenn er verlor.
Bryce bewunderte Sven Schultzes Disziplin. Er begann, nach dem Training mit Sven ein konzentriertes Wurftraining zu absolvieren. Bryce mochte Stabilität. Am Anfang der Saison hatte er auf dem Spielfeld zögerlich gewirkt, Hi-Un Park hatte von »einem permanenten Schwindel« gesprochen. Ende November hatte er
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