Gentlemen, wir leben am Abgrund
Hollis seine erste Saison bei Alba Berlin. Die Erntejahre seiner Karriere hatte Hollis dann auf höchstem europäischem Niveau in Litauen, Spanien und Russland gespielt. Dann für die Artland Dragons. Seine Einstellung zum Spiel an sich habe sich in all den Jahren nicht verändert. Immer noch spiele er Basketball aus denselben Gründen wie an der St. Augustine High. »Nur bekomme ich jetzt Geld für das, was ich liebe«, sagte Hollis. »Zu Hause wissen die wenigsten Leute, dass ich Basketball spiele. Ich trage keinen Schmuck, ich fahre kein dickes Auto, ich erzähle es nicht jedem.« Immer noch telefoniere er alle zwei Tage mit seinem Großvater. Immer noch führe er im Sommer seine Mutter zur Therapie.
Die Geschichte ging weiter. Hollis erwähnte den Krebstod seiner jüngeren Schwester im letzten Frühjahr, aber er ging nicht ins Detail. Er erzählte von den Sommern in Houston und seinem Hund, einem Mops namens Buckets, den er vor Jahren in Berlin gekauft hatte.
Femerling humpelte wieder durch die Lobby, Coach Katzurin verließ das Hotel und kehrte mit ein paar Äpfeln zurück, er schien uns nicht zu sehen. Der Physio wuchtete seine Massagebank in den Aufzug.
Unser Gespräch kam wieder zum Basketball zurück. »Ich bin zum ersten Mal in meiner Karriere in so einer Situation«, sagte Hollis. »Ich war verletzt, ich spiele wenig. Ich telefoniere mit meinem Großvater.«
Luka Pavi ć evi ć war auf gewisse Weise am Point-Guard-Problem gescheitert. An einem Januarmorgen hatte er Hollis mitgeteilt, dass er nicht mehr mit ihm plane. Dann aber hatten die Manager mit Guy Zucker telefoniert und Hollis hatte beim Abendtraining wieder in der Halle gestanden. »Du musst positiv bleiben«, sagte er. »Wenn du negativ sprichst, beeinflusst das alle anderen in der Mannschaft. Negativität zieht Kreise.« Hollis stand auf, ein wenig ungelenk, ein wenig steif. Er ächzte, dann lächelte er. »So einen Stil, wie ihn der neue Coach spielen lässt, habe ich nicht mehr gespielt, seit ich zwölf war. Allerdings hatteich damals noch die Beine dafür. Ich konnte den ganzen Tag spielen, ohne müde zu werden.«
Dass dieses Jahr kein gutes Jahr für ihn war, wusste Hollis Price in der Hotellobby des Vertice Hotel in Sevilla. Es kam mir vor, als wisse er auch, was kommen würde. »Wir sind Profis, und das ist dein Job. Und wenn du schlecht spielst, verlierst du diesen Job.« Wir standen vor dem Aufzug und warteten, der Concierge ignorierte uns. Hollis Price lächelte sein Lächeln. »Deswegen muss ich jetzt auch schlafen, Mann.«
Die Kabine im Palacio Municipal de Deportes San Pablo sah aus wie eine deutsche Gesamtschule am Rand von Münster. Gebaut in den späten achtziger Jahren, nackter Beton und bunte Farbflächen. Fliesen. Weichholzbänke. An der Tür zum Aufwärmraum stand Sala de Musculación. Sven Schultze und Patrick Femerling blieben im Aufzug stecken und kamen zu spät zur Besprechung. Katzurin ließ sie auf dem Gang warten.
Man betrat die Halle durch einen Tunnel aus grüner Lkw-Plane, der die Mannschaften und Schiedsrichter vor Wurfgeschossen schützen sollte. Ein Thermometer in den Katakomben zeigte neun Grad. Die Zuschauer trugen Winterjacken, ein paar Spieler behielten beim Aufwärmen ihre Mützen auf.
Neben mir machte sich ein NBA – Scout der Charlotte Bobcats Notizen in sein iPad. Er beobachtete den Aufbauspieler der Spanier, den Tschechen Tomáš Satoranský. Die Halle war ähnlich wie in Caserta nur spärlich gefüllt, aber die wenigen Zuschauer waren laut.
»Diese Hallen hier sind nur im Sommer und bei wichtigen Spielen warm«, sagte der Scout. Er trug aberwitzige Schlangenlederschuhe, sein Kopf war spiegelglatt rasiert, und wie alle in der Halle aß er Sonnenblumenkerne. Jeder Schritt knackte, überall lagen Schalen. Femerling und Hollis wurden vor Spielbeginn vom spanischen Publikum kurz und respektvoll bejubelt. Und dann gnadenlos ausgepfiffen. Coach Katzurin begann klein und schnell, Femerling blieb auf der Bank. Die Mannschaft pumpte sich auf, sie schrie sich heiß, es ging los.
Und dann kam alles ganz anders. Nach zwei Minuten war die Zuversicht verflogen, sie wich einer unerwarteten Angst. 9:0, Alba hatte noch kein einziges Mal auf den Korb geworfen. Dann 8:22. Turnover über Turnover, die Spanier rannten. Coach Katzurin wechselte Hollis Price aus und würde ihn nicht wiederbringen. Die Ideen des Trainings konnten nicht umgesetzt werden. Marko Marinovi ć hatte sich offensichtlich vorgenommen, dem
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