Gentlemen, wir leben am Abgrund
hören, was passiert.« An repräsentativen Aufgaben lag Baldi wenig. Er stammte – ausgerechnet – aus dem Dorf Korb bei Stuttgart. Neun Jahre hatte er in der Bundesliga für Ludwigsburg und Berlin gespielt, mit 29 war er bereits Manager geworden. Seit zwanzig Jahren saß er am Spielfeldrand unter dem Korb, die Bank im Blick, die Gesichter. In den meisten Hallen stand ein Stuhl für ihn bereit, manchmal war es ein Presseplatz, manchmal ein Hocker von einem Sanitäter,manchmal blieb er stehen, um das Gefühl der Unmittelbarkeit zu behalten. Während der Spiele sprach er selten, außer bei Fehlentscheidungen direkt vor seiner Nase. Er konnte mehrsprachig fluchen. Seine Explosionen wurden international verstanden.
Beim Training in Sevilla lag Marco Baldi keuchend am Spielfeldrand, den Kopf auf einem Ball, und beobachtete die Spieler und den neuen Coach. Ob er Zeit für ein Interview habe, fragte ich, ich hätte einige Fragen, es gebe ja einiges zu erzählen, die Saison sei ja jetzt halb vorbei. »Jetzt ist Training«, sagte Baldi und begann die nächste Serie Liegestütz. »Heute Nachmittag ziehen wir Fazit.«
Am Mittag stand Sevilla still. Ich saß in der blinkenden und piependen Kaffeebar gegenüber vom Hotel und notierte. Die Innenstadt war zu weit entfernt, um sie sich anzusehen, die Zeit war gerade eben zu knapp. Baldi kam vorbei. Wir sprachen eine Weile über Luka Pavi ć evi ć , über die O2 World, über Einstellungen zum Spiel, über Identifikation und Entertainment. Die Spieler verließen das Hotel und kamen zurück, sie spazierten zur Tankstelle gegenüber, sie kauften Sonnenbrillen und Limonade, sie tranken Kaffee.
Patrick Femerling stieg in ein Taxi und kam eine Stunde später mit einem rot-weiß gepunkteten Sommerkleid für seine Tochter zurück, einem traditionellen Sevillanakleid. Femerling kannte sich hier aus, er und Hollis Price hatten beide eine Saison für Cajasol Sevilla gespielt, beide sprachen Spanisch. Hollis saß in der Lobby des Hotels und unterhielt sich mit zwei Spanierinnen, die Füße auf dem Tisch, sein breites Lächeln im Gesicht. Auch hier war er Publikumsliebling gewesen. Hollis ließ den beiden Tickets für das Spiel reservieren, dann setzte er sich zu mir.
Hollis Price hatte eine Geschichte. Sie war tragisch, aber wahrscheinlich war sie sogar exemplarisch für einen größeren Missstand. Patrick Femerling war in Düsseldorf aufgewachsen, Tadija Dragi ć evi ć in Čačak, Bryce Taylor in Encino, Kalifornien. Hollis Price stammte aus den Desire Projects von New Orleans, heruntergekommenen Sozialbauten im Ninth Ward der Stadt, in denen fast ausschließlich unterprivilegierte Schwarze lebten. Seine Mutter war drogensüchtig, sein Vater lebte nicht in New Orleans. Hollis war bei seinen Großeltern aufgewachsen, er schlief auf ihremSofa. »Meine Mutter nahm Drogen, seit ich denken kann. Meist Crack, wie alle Schwarzen. Sie war ständig im Gefängnis. Oder sie lebte auf der Straße. Manchmal verschwand sie einfach und blieb Monate weg. Wir hatten keine Ahnung, wo sie war. Oder ob sie zurückkommen würde.«
Seine Mutter war jetzt fünfzig Jahre alt und lebte in Houston. Sie kämpfte immer noch gegen ihre Sucht. Im Sommer flog Hollis zurück nach Hause und brachte sie täglich zur Therapie. Aber wenn in Europa die nächste Saison begann, konnte er seine Mutter nicht schützen. »It’s tough«, sagte Hollis. »Sie kämpft, Mann, sie kämpft, aber dieser Kampf hört niemals auf. Sie sieht jung aus, wenn sie clean ist. Wenn sie konsumiert, wird ihr Körper kleiner. Klein und alt. Crack macht einen klein und alt und fertig.«
Wenn Hollis über diese Dinge sprach, redete er langsamer und leiser. Er war älter, als sein breites Lächeln vermuten ließ. Als Kind hatte er Baseball gespielt, erst mit dreizehn kam er zum Basketball. Sein Großvater hatte ihm das Spiel erklärt und seine Einstellung zum Sport geprägt. Hollis telefonierte immer noch alle zwei Tage mit seinem Großvater.»Er hat mir erklärt, wie man Stärke zeigt«, sagte Hollis. »Er hat mir erklärt, wie man gewinnt. Dass man dem Gegner nie zeigen darf, dass man frustriert ist. Dass man immer weitermacht. Dass der nächste Wurf kommt. Du darfst dich nicht ablenken lassen.« Sein Großvater sei sozusagen jünger als seine Mutter und sein bester Freund, sagte Hollis in Sevilla. Er überlegte kurz. George Carraby. Sein bester Freund.
Nach der St. Augustine High School in New Orleans hatte Hollis vier Jahre an der University
Weitere Kostenlose Bücher