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Gentlemen, wir leben am Abgrund

Gentlemen, wir leben am Abgrund

Titel: Gentlemen, wir leben am Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pletzinger
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spielen«, würde der Coach sagen. »Wir machen immer wieder dieselben Fehler. Es ist in jedem Spiel das Gleiche: Der Point Guard des Gegners macht sein bestes Saisonspiel gegen uns.«
    Die Mannschaft verlor auch das anschließende Spiel in Ludwigsburg, 89:84, die vierte Niederlage in Folge. Die Maßnahmen des Trainers und des Managements schienen nicht zu greifen. Beim Rückspiel gegen Sevilla lag man nach einer weiteren schlimmen Halbzeit mit 28:49 zurück. Die Halle schien erstarrt. Die Mannschaft schlich unter deutlich hörbaren Buhrufen in die Kabine. Die Spieler fielen auf ihre Plätze, sie zeterten, fluchten, schimpften.
    Derrick Allen trat aus den Buhrufen der Fans in die Kabine und zögerte nur kurz. Derrick Allen hatte seit Monaten gewissenhaft seine Arbeit gemacht, er hatte trainiert und dabei nicht viel gesagt. Und wenn, dann war er nicht laut gewesen. Wenn Derrick Allen seinen Schädel nicht rasierte, sah man, dass sein Haar lichter wurde. Er wirkte wie ein Mann unter Jungen. Derrick Allen betrat also die Kabine, er sah sich kurz um und ging zu seinem Platz zwischen Jenkins und Taylor, aber er setzte sich nicht. Derrick Allen blieb stehen. Er hatte genug von Ansprachen und disziplinarischen Maßnahmen. Er hatte genug von Erklärungsversuchen und Interviews, von Schlagzeilen und Rechtfertigungen, von Vorwürfen und Spannungen und Gerüchten und Zwist, er hatte genug vom monoton kreisenden Floskelwirbel des Profisports.
    Derrick Allen hatte genug verloren.
    Noch ehe der Coach das Wort ergreifen konnte, räusperte sich Derrick Allen und begann zu sprechen, ohne die Aufmerksamkeit der Mannschaft abzuwarten. Der Schweiß rann ihm in Strömen über das Gesicht. »Ich bin nicht hierhergekommen, um verdammt noch mal zu verlieren«, sagte Derrick. »Fuck! Deswegen bin ich nicht hier. Ich bin nicht hier, um miserabel zu spielen. Deswegen bin ich nicht hierhergekommen.« Es war jetzt totenstill in der Kabine. Die Sorte betroffener Stille, die herrscht, wenn ein besonnener Mensch die Fassung verliert, wenn ein Mann fällt oder weint oder die Wahrheit sagt. Man konnte Derrick Allens Schweiß nicht mehr von Derrick Allens Tränen unterscheiden.
    »I came here to fucking win«, rief Derrick, und seine Stimme schien kurz zu kippen, aber Derrick fing sie ein und brachte sie wieder unter Kontrolle. »Wir reden die ganze Zeit nur. Wir reden und reden. Fuck! Ich kann das Gerede nicht mehr hören. Wir spielen schlecht. Wir spielen miserabel. Fuck!«
    Mittlerweile hatte der Coach die Kabine betreten, aber auch er schwieg und hörte zu. Ich sah mich um. Die Argumente und Rechtfertigungen verschwanden aus den Augen der Spieler. Das Aber verschwand. Das Fingerzeigen. Die Schuldzuweisungen. »Ich rede nicht nur von euch. Ich rede auch von mir. Ich rede von uns, von Spielern, vonden Trainern, von uns allen«, sagte Derrick. »Ich hasse es, wie wir spielen! Ich hasse dieses Gefühl! Lasst uns aufhören zu reden und lasst uns spielen. Let’s play with some fucking heart! Fuck!«
    Derrick wischte den Schweiß, die Tränen und den Rotz mit seinem Trikot ab. Er setzte sich. Die Spieler nickten. Coach Katzurin ergriff das Wort und redete zu lange, er zerredete die Größe des Moments. Ich notierte Kehrtwende der Saison? Wir waren im Abgrund angekommen, jetzt konnte es nur noch bergauf gehen (ich hatte auf diese Momente gehofft).
    Das Spiel gegen Sevilla würde noch verloren gehen. 81:95. In einer Loge der O2 World saß bereits der neue Aufbauspieler Taylor Rochestie und sah seinen neuen Mannschaftskameraden zu. In der Woche drauf sollten Coach Katzurin und Mithat den Point Guard von Galatasaray Cafecrown Istanbul dem Team vorstellen. Eine weitere Woche später würde dafür Marko Marinovi ć nach Samara in Russland wechseln, gegen die er im Dezember noch ein gutes Spiel gemacht hatte.
    Marinovi ć verabschiedete sich freundlich von allen. »So was passiert mir zum ersten Mal in meiner Karriere«, sagte er noch, »aber ich muss spielen, Mann!« Tommy durchkreuzte Marinovi ć s Gesicht auf dem Mannschaftsposter an der Kabinentür. Auch der Physiotherapeut wurde ausgetauscht, und im März lieh Alba den 125-Kilo-Center Miroslav Raduljica von Efes Pilsen Istanbul aus. Die Wechselfrist würde ablaufen. Mit dieser Mannschaft würde diese merkwürdige Saison zu Ende gespielt werden müssen. Diese denkwürdige Saison.
    Aber als Hollis, Coach Katzurin und die anderen in der Morgensonne am Flughafen von Sevilla warteten, hielt niemand so eine

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