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Geopfert - [Gus Dury ; 1]

Geopfert - [Gus Dury ; 1]

Titel: Geopfert - [Gus Dury ; 1] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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gebrechlich. »Ich weiß, dass du viel zu tun hast, mein Junge, aber ich musste anrufen. Tut mir leid, wenn ich dich wieder störe.«
    Mein Herz krampfte sich zusammen. »Nein, Mum, entschuldige dich nicht, ich habe dich ja auch anrufen wollen, das wollte ich wirklich.« Es war eine Lüge, aber daran hatte ich mich in letzter Zeit gewöhnt.
    »Ich weiß, dass Catherine es dir erzählt hat, über –«
    »Geht’s ihm besser, Mum?«
    »Oh, Gus …«
    »Mum?«
    Ein Stöhnen, wirklicher Schmerz. »Gus, er wird keinen weiteren Tag überleben, der Doktor sagt, es ist ein Wunder, dass er noch bei uns ist. Oh, mein Junge, er hält wegen dir durch, er wartet auf deinen Besuch. Wenn du doch nur … Oh, Gus. Oh, mein Junge …«
    »Mum, bitte.«
    »Ich weiß, ich habe kein Recht, dich darum zu bitten. Es tut mir leid.«
    »Mum.«
    »Nein. Ich hätte nicht anrufen dürfen. Du hast deine Gründe. Es tut mir leid, mein Junge. Ich lass dich in Ruhe.«
    »Mum, ich werde kommen. Sag ihm, ich werde kommen.« Hatte ich das gesagt? War wohl so. Wo war nur mein Kopf?
    Ich zog eine schwarze Cordhose an, an den Knien eher schon grün. Ich suchte ein weißes Hemd, musste mich mit einem weißen T-Shirt begnügen. Rundete den Look mit einem marineblauen Lambswool-Pullover mit V-Ausschnitt ab.
    Ich hatte die Pflegeanweisung ziemlich nachlässig befolgt, und so war das Ding an den Schultern recht eng. Ich zog am Hals, hörte etwas reißen.
    »Oh, Himmelherrgott!«
    Das Bündchen war abgerissen. Ich warf den Pulli weg, schlüpfte stattdessen in einen roten Pringle of Scotland mit dem berühmten Rautenmuster. Passte wie ein Traum, für Qualität gab es eben keinen Ersatz.
    Ich stieg in meine Docs und betrachtete mich im Spiegel. »Siehst ein bisschen aus wie ein prolliger Golfer, Gus.«
    Trotzdem, es würde gehen müssen. Mir gingen langsam die Klamotten aus.
    In der Küche versuchte ich mir einen Kaffee zu machen, aber meine Hände zitterten unkontrollierbar. Ich pfefferte den Löffel in die Spüle und ging zum Kühlschrank. Hod hatte immer eine Grolsch-Reserve, die schweren Flaschen, die durch die Fußball-Hooligans in Mode gekommen waren. Neben angeschärften Schirmspitzen fungierten die Flaschen früher mal als eine perfekte versteckte Waffe. Das Grolsch schmeckte gut. Ich knackte zwei Flaschen. Das Zittern ließ nach, aber ich fühlte mich alles andere als auskuriert.
    Hod schien tief und fest zu schlafen, als ich ging. Ich steckte die Glock in meinen Hosenbund und klemmte mir Milos Asche unter den Arm.
    Ich schlenderte den Portobello-Strand entlang, in der Hoffnung auf einen Geistesblitz. Mir pochte der Schädel vor lauter Sorgen, oder war das nur der Alk, der mich rief? Nach all der Zeit wieder mit meinem alten Herrn zu reden würde nicht leicht sein. Ich war bereit, es meiner Mutter zuliebe zu tun. Sie hatte über die Jahre die volle Wucht seiner Folter ertragen, und nach alldem, wie konnte ich ihr da noch eine Abfuhr erteilen?
    »Jesus, Mum – warum bist du nicht einfach abgehauen?«, brummte ich leise vor mich hin.
    Wenn sie doch nur versucht hätte, sich von ihm zu befreien, dann hätte sie vielleicht ein anständiges Leben führen können. Aber für sie war das eben etwas, was nicht zu ändern war. Ich habe das nie verstanden; war das eine Frage der Generationen? Keine Frau würde sich heute so etwas bieten lassen. Deborah brauchte definitiv erheblich weniger Anlass, um mich zu verlassen.
    »Blödsinn!« Ich trat von einer Sandbank herunter und versank sofort bis zu den Knöcheln im Meerwasser. »Das hat mir gerade noch gefehlt.«
    Ich verließ den Strand. Für einen Stadtjungen wie mich viel zu nahe an der Natur. Ich hatte gedacht, es könnte vielleicht genau der richtige Ort sein, um Milos Asche zu verstreuen, lag aber daneben. ›Sie muss zurück nach Irland gebracht werden‹, dachte ich. Das hätte Milo auch so gewollt. Gott, es tat weh, an ihn zu denken und wie er in dies alles hineingeraten war. Ich wusste, es würde bis in alle Ewigkeit eine der tiefsten Wunden meiner traurigen Existenz bleiben.
    Im ersten Zeitungsladen, der mir unterkam, bat ich den Verkäufer um eine Tragetasche, stellte dann vorsichtig die Schachtel mit der Asche hinein.
    »Und noch zwanzig Regal, bitte«, sagte ich.
    Ich steckte mir eine an – eine nach der anderen –, bis ich mich zwei Straßen vom Haus meiner Familie entfernt wiederfand. Als ich dort ankam, an dem Ort, der für jeden von uns so viel Schmerz bedeutete, nahm ich einen letzten tiefen

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