George, Elizabeth
mit dem Fall zu tun, dachte sie. Aber Hiro sagte: »Sie
kämpfen für ihn. Das spielt sich natürlich nur in seinem Kopf ab, aber er hört
sie, und manchmal glaubt er sie auch zu sehen. Was er sieht, sind Menschen,
aber in der Vergangenheit sind schon häufig Engel in Menschengestalt
erschienen. In der Kunst und in Büchern werden sie immer wie menschliche Wesen
dargestellt, und deswegen hält er sich für einen von ihnen. Er glaubt, sie
warten darauf, dass er seine Absicht erklärt. Das ist der Kernpunkt seiner
Krankheit. Aber es beweist doch nur, dass er niemandem etwas zuleide getan
hat.«
Isabelle betrachtete die
Zeichnungen, während Lynley nachdenklich an ihnen vorüberschritt. Es gab
Engel, die auf Teiche herabschwebten, in denen Menschen mit verzerrten
Gesichtern flehend die Arme zu ihnen emporreckten. Es gab Engel, die Dämonen
vor sich hertrieben, um sie an einem in der Ferne sichtbaren Tempel arbeiten zu
lassen. Es gab Engel mit Trompeten, Engel mit Büchern, Engel mit Waffen und
eine riesige Gestalt mit ausgebreiteten Flügeln, die eine ganze Armee anführte,
während in der Nähe eine weitere Gestalt eine biblische Stadt zerstörte. An
einer Wand war der Kampf zwischen zwei Arten von Engeln dargestellt: eine
Gruppe Bewaffneter und eine Gruppe von Engeln, die mit ihren Flügeln am Boden
kauernde Menschen zu beschützen versuchten.
»Er glaubt, er müsse sich
entscheiden«, bemerkte Hiro Matsumoto.
»Entscheiden wofür?«, fragte
Isabelle. Lynley war an ein schmales Bett getreten. Auf dem Nachttisch standen
eine Lampe und ein beschmiertes Glas mit Wasser, neben dem ein Buch lag. Er
nahm das Buch in die Hand und schlug es auf. Eine Karte fiel heraus, und er
bückte sich, um sie aufzuheben.
»Ob er ein Schutzengel oder
ein Streiter sein will«, sagte Matsumoto. »Ob er beschützen will oder...« Als
er zögerte, beendete Isabelle den Satz für ihn.
»Oder bestrafen«, sagte sie.
»Sieht so aus, als hätte er sich inzwischen entschieden, meinen Sie nicht?«
»Bitte, er hat nicht...«
»Chefin.« Lynley betrachtete
die Karte. Sie trat zu ihm. Es handelte sich um eine der Postkarten aus der
National Portrait Gallery. Jemima Hastings' Konterfei. Unter dem Gesicht stand
geschrieben: »Haben Sie diese Frau gesehen?« Über den schlafenden Löwen hatte
jemand einen Engel gezeichnet. Er hatte seine Flügel schützend ausgebreitet.
Eine Waffe hielt er nicht in der Hand.
»Dies scheint mir eher dafür
zu sprechen, dass er lieber beschützen wollte als bestrafen«, sagte Lynley.
Isabelle wollte ihm gerade
erklären, dass er sich irrte, als Yukios Bruder aufschrie. Sie fuhr herum. Er
stand vor dem Waschbecken und starrte hinein. »Finger weg!«, herrschte sie ihn
an und ging zu ihm, um sich anzusehen, was er dort entdeckt hatte.
Was auch immer es sein mochte,
es war blutverschmiert. Es war so sehr mit Blut verkrustet, dass nur noch eine
vage Form zu erkennen war.
»Aha«, sagte Isabelle. »Sieh
mal einer an. Berühren Sie das nicht, Mr. Matsumoto.«
Um diese Uhrzeit gab es in
Chelsea nicht viele Parkmöglichkeiten. Lynley musste einen längeren Fußweg vom
Carlyle Square in Kauf nehmen. Er überquerte die King's Road und ging durch die Old
Church Street in Richtung Themse. Unterwegs überlegte er einerseits, welche
Möglichkeiten er hatte, AC Hillier während der kommenden Tage aus dem Weg zu
gehen, und andererseits, wie er das, was er an Isabelle Arderys Seite erlebt
hatte, darstellen sollte, falls er sich zu einem Gespräch mit dem Assistant
Commissioner gezwungen sah.
Er wollte Ardery den Rücken
freihalten. Als Neuling auf dem Posten des Superintendent stand sie unter dem
Druck, sich beweisen zu müssen. Aber er wollte auch, dass die richtige Person
verhaftet wurde, wenn es so weit war, und er war keineswegs davon überzeugt,
dass Yukio Matsumoto sich eines Mordes schuldig gemacht hatte. Dass er sich in
irgendeiner Weise schuldig gemacht hatte, stand kaum außer Zweifel. Aber Mord?
Lynley konnte es sich einfach nicht vorstellen.
»Das liegt bloß an seinem
Bruder«, hatte Isabelle ihm auf dem Rückweg zum Yard brüsk beschieden. »Sie
verehren ihn, und deswegen wollen Sie alles glauben, was er sagt. Ich nicht.«
Im Besprechungsraum war es
diesmal ungewöhnlich still zugegangen. Die Kollegen wussten, was mit Yukio
Matsumoto passiert war; sicherlich ein Grund für ihre Schweigsamkeit. Aber der
andere Grund war Isabelle Arderys Konfrontation mit Philip Haie im Krankenhaus.
Selbst wenn Philip den
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