Georgette Heyer
gar nicht sah.
Für Überlegungen privater Natur
hatte sie keine Zeit gehabt, ehe sie York verlassen hatte, wo sie eine Stunde
mit Mr. Mytchett verbringen mußte. Aber als sie das letzte Dokument
unterzeichnet und die letzte sorgfältige Frage beantwortet hatte, gab es wieder
zuviel Zeit zum Denken. Mr. Hendred, resigniert der unvermeidlichen Wiederkehr
seiner Neuralgie ausgeliefert, wickelte sich einen Schal um den Kopf und lehnte
sich in seine Ecke der Kalesche zurück, schloß energisch die Augen, und seine
Nichte hatte daher Muße, sich ihrem Grübeln zu überlassen. Glücklich waren
ihre Gedanken nicht, leider aber derart intensiv, daß sie, statt eifrig in
eine ihr noch unbekannte Landschaft hinauszublicken und nach berühmten
Wahrzeichen auszuschauen, nur wenig mehr als die auf- und abschaukelnden
Gestalten der Postillione sah und sich nur schwach für die verschiedenen
historischen Städte interessierte, durch die sie fuhr. Die erste Teilstrecke
der Reise war notwendigerweise kurz gewesen, so daß noch hundertzwanzig Meilen
zu bewältigen waren. Sie hatte sich dem Entschluß ihres Onkels gefügt, auf dem
Weg nur einmal zu übernachten. Als die Kalesche endlich am Cavendish Square
vorfuhr, war sie daher derart müde, daß sie auf die besorgten Fragen ihrer
Tante nur mechanisch höflich antworten konnte und sich zwingen mußte, gerade
nur ein paar Bissen des noblen Soupers hinunterzuwürgen, das zu ihrer
Erfrischung vorbereitet worden war. Mrs. Hendreds Freundlichkeit war nicht zu
überbieten, noch der Ausdruck warmer Zuneigung, mit dem sie die Nichte
begrüßte, die sie sieben Jahre lang nicht gesehen hatte. Sie streichelte sie
innig und drängte ihr geradezu jede Aufmerksamkeit auf, geleitete sie
persönlich in ihr Schlafzimmer, blieb bei ihr, während ihre eigene Kammerzofe
Venetia bediente, und verlief? das Zimmer erst, nachdem sie Venetia eigenhändig
warm im Bett eingemummelt, sie geküßt und ihr flüsternd versprochen hatte, sie
sehr zu verwöhnen und ihr unzählige Vergnügungen zu bieten.
Mrs. Hendred war eine sehr hübsche
Frau, höchst gutmütig und höchst dumm. Ihr Hauptzweck im Leben bestand darin,
an der Spitze der Mode zu bleiben und für ihre fünf Töchter innerhalb möglichst
kurzer Zeit vorteilhafte Partien zu finden, sobald sie jede dieser kleinen Damen,
eine nach der anderen, in die Gesellschaft eingeführt haben würde. Gerade in
diesem Jahr war ihr schon eine ausgezeichnete Verbindung für Louisa gelungen,
und sie hoffte, es im kommenden Frühjahr nicht weniger gut für Theresa zustande
zu bringen, vorausgesetzt, daß sich die Behandlung, die das Töchterchen
derzeit beim Dentisten über sich ergehen ließ, als erfolgreich erwies, und sie
sich nicht drei Vorderzähne ziehen und auf die Stümpfe falsche einschrauben
lassen mußte; und weiter vorausgesetzt, daß vor ihrem Debüt ein Gatte für ihre
wunderschöne Kusine Venetia gefunden werden konnte. Theresa war ein hübsches
Mädchen und würde eine recht schöne Mitgift bekommen, aber Mrs. Hendred hegte
keine Illusionen – Venetia mochte vielleicht durch ihre fünfundzwanzig Jahre im
Nachteil sein, aber sie war nicht nur so wunderschön, daß sich die Leute auf
der Straße nach ihr umdrehten und sie anstarrten, sondern sie hatte mehr
Charme als alle Hendredtöchter zusammengenommen. Es gab gewisse Schwierigkeiten
bei der Aufgabe, Venetia entsprechend zu verheiraten, wie Mrs. Hendred sich nur
zu gut bewußt war, aber der Optimismus der guten Dame ermutigte sie zu der
Hoffnung, daß sie mit Venetias Trümpfen der Schönheit, des Charmes und eines
beträchtlichen Vermögens eventuell eine recht ansehnliche Verbindung für sie bewerkstelligen
konnte. Sie hielt es für einen Jammer, daß Venetia Edward Yardleys Antrag
abgelehnt hatte, denn es wäre genau das Richtige für sie gewesen, da Mr.
Yardley ein warmherziger Mensch war und sich der Gunst ihres Vaters erfreut
hatte. Sir Francis hatte Mrs. Hendred informiert, als er ihr vor Jahren
geschrieben und das Angebot seiner Schwester, Venetia bei Hof vorzustellen,
abgelehnt hatte, daß Venetias Heirat so gut wie abgemacht sei. Es dauerte nicht
lange, bis sie Venetia davon erzählte, und ihre Bestürzung war groß, als sie
erfuhr, daß Venetia weit davon entfernt war, überhaupt an eine Heirat zu
denken, ja sogar mit dem festen Entschluß nach London gekommen war, für sich
und Aubrey in einem stillen Teil der Stadt oder vielleicht sogar in einer der
Vorstädte ein Haus einzurichten. Mrs.
Weitere Kostenlose Bücher